Nach der Grenze tasten

Montag, 17. September 2012

Wie es kam, dass ich jetzt mit den Kalkbergen versöhnt bin

Es waren Zwänge, die mich zur Freiheit geführt haben. Die Wettervorhersage von der Kaltfront am nächsten Tag. Der Abbruch der Besteigung im letzten Jahr. Der neue Sicherungsgurt. Und die Schulkonferenz noch am frühen Nachmittag.

Erst um 16 Uhr erreichte ich das Bärental, und ich sah zu meiner Bestürzung, dass gerade über dem Hochstuhl die einzige dunkle Wolke Kärntens höhnisch auf mich herunterdrohte. Lass ich mich einschüchtern?

Ich finde, Wille ist wichtiger als Vernünftigkeit. Ich steige den Weg hinauf zum Einstieg des Klettersteigs, den Gipfel mit der Wolke stets im Blick. Bei Verschlechterung wäre ich auf den fast gleichhohen, aber bequem erreichbaren Gaisberg ausgewichen. Die Wolke sieht mich grimmig abwartend an und bewegt sich nicht.

Jederzeit zur Umkehr bereit, notfalls auch nass, steige ich schließlich – viele sind mit bergab entgegengekommen mit verwundertem Blick – still und allein im Hochtal über den Geröllhang auf den Felsen zu. Ich nehme zum ersten Mal die neuen Gurten aus dem Rucksack und lasse ihn unter einem Stein zurück. Die ersten senkrechten Anstiege über die Eisentritte: das Ein- und Ausklicken scheint Zeit zu kosten, obwohl ich meist nur einen Karabiner verwende. Mit Respekt blicke ich den Felsen hinauf und den größer werdenden Abgrund hinunter. Ich mache eine Rechnung, zu welchem Zeitpunkt ich umkehren müsste, um bei Tageslicht zurückzukommen.

Ich komme weiter als letztes Jahr. Statt der Wolke umfließt mich warmer Spätsommersonnenschein. Ich sehe den Gaisberg gegenüber bereits tiefer liegen, zum Gipfel habe ich jedoch keine Sicht. Ich gehe dennoch weiter. Zuletzt gibt es einige Schleifen über Schutt und Sand, was ich nicht mag und was ich den Kalkbergen vorhalte.

Am Gipfel, der bereits in Slowenien liegt, treffe ich ein junges Pärchen und sehe, dass sie nicht mehr absteigen werden, sondern in der nahen Hütte bleiben. Ich klopfe aufs Kreuz und trete sofort den Rückzug an, ungeschickt in Sand und Geröll. Es dämmert bald. Ich gehe über die kleinen Grate, Abgründe auf beiden Seiten, schneller und aufrechter als zuvor. Ich achte darauf, mich nicht zu versteigen und keine Zeit zu verlieren. Ich freue mich auf die Seile im unteren Bereich und nehme die ungesicherten Stellen kaltschnäuziger. Aber selbst in dieser Situation ist es ein Genuss, sich auf den glatten, warmen, rissigen Stein zu stützen und mit den Füssen Tritte und Vorsprünge zu suchen. Man kann zu diesem Weg Vertrauen haben. Ist nicht erst das ein Abgrund, wenn der Boden nicht mehr zu sehen ist?

Als die Drahtseile kommen, atme ich auf. Ich kann sie gerade noch sehen und klinke mich ein. Ich merke, dass es wieder um die knappe Zeit geht. Immer wieder passiert mir das. Jetzt, wo ich mit Sicherung gehe, ist die Zeit das Abenteuer. Und es stellt sich heraus, dass selbst im Sternenlicht - der Mond kommt erst später – die Vorsprünge noch zu sehen sind (oder zu ahnen). Die weißrote Markierung, die im Nachtlicht dann und wann neben mir auftaucht, ist ein Friedenszeichen. Schalom.

Ich höre Laute und Geräusche, denke an Menschen drüben im Wald – aber es sind immer Tiere, Kauze, brüllende Rinder. Bellende Rehböcke. Weiter oben hat es geklungen wie eine Windharfe. Ich denke daran, dass solche Musik der Geschöpfe auch in der Kirche klingen sollte.

Ich spüre es, wenn ich mich dem Geröllhang nähere, es beruhigt, obwohl der steilste, fast überhängende Leiteranstieg gerade dort ist. Dass es trotzdem auch im Finstern möglich ist, den Stein entlang hinunterzugleiten, liegt daran, dass der weißgraue Kalk sehr hell ist in der Nacht, und selbst die fernen Sterne darauf Schatten werfen.

Ich springe von der letzten Sprosse, hole meinen Rucksack und taste mich, ohne die Gurten abzulegen, über das Geröll hinüber zum Wald, irre manchmal, sehe doch wieder eine Markierung. Bald bin ich auf dem Waldweg und schreite mit geraden Schritten hinunter. In der Stadt machen die Laternen die Sterne unsichtbar – hier leuchten die Sterne und von unten der Kiesweg. Die dunklen Berge, die jetzt immer höher werden, umstehen mich wie Tanten, aber sie lachen nicht über mich,kein Ton, höchstens ein stumm erhobener Zeigefinger.

Manchmal, wenn die Baumwipfel zusammenstehen und ich durch Tunnel steige, dann zerfällt das Bild des Kieswegs in zwei getrennte Bilder für beide Augen, dann geht man, Lichtpunkte oben, Lichtpunkte unten, durch den Weltraum ohne Tiefe und Entfernung.

Einmal sehe ich vier Flugzeuge gleichzeitig auf Kreuzbahnen, als würden sie zusammenstoßen, und erst jetzt merke ich ihr Geräusch, von den Felswänden zurückgeworden. Ich habe Sorge, den Parkplatz im Wald zu versäumen, aber knapp vor mir taucht aus der Finsternis der Schranken auf, und dort, unter Bäumen, steht nunmehr als einziges mein silbergraues Auto

Samstag, 8. September 2012

Einblicke im Balkandorf

Ein Balkandorf.
Eine offene Tuere.
Ein Blick.
Ein schlafendes Maedchen.
Blondes Haar im Licht,
eine schmale Nase nach oben,
eine Deĉke im Schatten.
Oder eine Frau.
Mit schwarzen Augen.
Aber wie kann man die Augen sehen, wenn sie schlaeft?
Schwarze Augen, die mich neugierig ansehen.
Die Frau mustert mich.
Ich bin ein Fremder, ein Eindringling.
Was ist von mir zu halten?
Bin ich laestig, als Gesicht von der Strasse her?
Sie beginnt, etwas zurechtzuruecken im Halbdunkel des Hauses im Balkandorf.
Ich haette jetzt weitergehen koennen.
Ich wollte noch einkaufen, Wasser, Obst.
Aber ich zoegerte noch.
Ein Hund sieht mich an, iault nicht, schweigt.
Die Ziege mit undurchdringlichem Blick.
Die Huehner picken geschaeftig am Boden herum.
Keine Stille im nachmittaeglichen Balkandorf.
Getrappel. Motorradgeknatter. Ein, zwei Mal eine Kraehe.
Die Maisfelder.
Die stummen Kamine.
Die stummen Pelargonien am Holzzaun mit den zugespitzten Brettern.
Haeuser ohne Stockwerk, ohne Balkon, mit Holzschindeln.
Und dort drin die schwarzen Augen
Sie hat etwas ins andere Zimmer gerufen.
Ich rieche zerfliessende Butter.
Huehnergegacker, Hundegeklaeff, aber nicht ein Traktor, sondern breite Lastwagen rumpeln die von Rissen zersägte Strasse hinauf und hinunter.
Man muss sich an den Gartenzaun druecken.
Misstrauische Blicke die Dorfstrasse entlang.
Als ich das Dorfgasthaus betrete, scheint fuer einen Moment jedes Gespraech zu verstummen.
Fragende Blicke.
Ein Spinnennetz, in das du geraetst, wo jedes Ende mit allen anderen zusammenhaengt und der Eindringling daran zieht.
Ich suche wie immer einen Platz am Rande, im Schatten, und lausche den wieder aufkommenden Stimmen.
Zurufe von Tisch zu Tisch.
Kein einziger froehlicher Blick, kein entspanntes Laecheln.
Das ganze Misstrauen der Provinz in diesem Gastgarten.
Ohne Umstaende wird serviert, wird aufgetragen und abgeraeumt.
Vielleicht ist diesen knochigen oder klobigen Bewohnern ein Leiden gemeinsam, verbleites Trinkwasser, vielleicht tragen sie etwas Schweres, das ihnen die Laune verdirbt, denn sie schnauzen dem Kellner etwas zu und bekommen etwas auf den Tisch gestellt, ohne dass sich auch nur ein Mundwinkel verzieht.
Aber Emiliya.
Sie hat gelaechelt, als sie vorbeiging.
Als haette sie einen Reim darauf.
Als kenne sie ein Geheimnis.

Spaeter ist vor ihrem Haus scharfer Zwiebelgeruch.
Die Huehner, der Hund, die Ziegen.
Lachend erzaehlt Emiliya vom Ponyzirkus.
Eine halbe Stunde vom Dorf, diese Woche.
Wir gehen hinueber.
Zigeuner sagt sie, nicht Roma.
Sagt es mit Abscheu.
Bei euch machen sie Musik, bei uns stehlen sie, sagt sie.
Die Kinder stellen sich an, um auf dem Pony reiten zu koennen.
Die Burschen reiten auf einem Motorrad durchs schlammige Gelaende.
Geschrei, Motorengeheul, dann Getrappel.
Rauch vom Ferkelgrillen.
Das ganze Dorf kommt hier zusammen, man isst und trinkt, und der Ernst hat Pause.
Hat Emiliya das gemacht oder die Zigeuner?
Die schlafende Griechin

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Mittwoch, 29. August 2012

Balkangipfel und Himmelserbarmen

In einer Balkanprovinz bin ich gelandet, ein Quartier zwischen Bergen mit Namen wie Stav oder Latşur, gruen bewaldet und ein klarer See dazwischen. Ohne Karte, allein auf Geheiss des Vermieters, trete ich an in den Nachmittagsstunden, nachdem die Zeit davor den Damen des Hauses oder den Buechern gehoert haben, und der sengenden Sonne.
In Hoehen, die bei uns hochalpin waeren, in die kein Wald mehr kommt, nur scharfrandiges Gelbgras, erblicke ich erstmals Wolken - und steige weiter, bar jeder Ausruestung, ausser dem, was ich am Leib trage. Nass bin ich ja schon geworden, das halte ich aus.
Blaugrau haengt Wasser am Himmel, wie unbeweglich, doch jedesmal, wenn ich wieder aufblicke vom Weg, haben die Wolken Form und Position veraendert, ohne dass ich die Windrichtung feststellen koennte. Ein Stellungsspiel, sie ziehn herum um mich und machen sich lustig.
Ich sehe das Kreuz.
Ich kreuze die Wege der Rinder, die arglos seitlich warten, bis ich sie umstaendlich umschritten habe, und spielen und laeuten Musik wie in Sizilien die Kirchenglocken.
Eine Otter gruesst mich von unten, zwei Handspangen lang, scheu zusammengeduckt, und als ich den Weg freigebe, eilt sie davon, bis sie aus den sandigen Trittgruben endlich ins hohe Gras entkommen kann. Eine Brahmanin muss sie im frueheren Leben gewesen sein, so grazil schluepft sie durch Halme und zieht ihr Zickzackband hinter sich her.
Mich begruessen, hinter dem Huegel, die Schafe mit freundlichem Baeaeh, ich gruesse freundlich zurueck und blicke nach oben. Ich sehe, nahe dem Kreuz, eine einzelne, dreieckig zerfranste finstere Wolke in tiefem Anflug auf mich. Ich rede sie an, mache Vorschlaege, rate einzulenken, im Blick auf das nahe Kreuz. Die letzten Meter hechte ich hinauf und klopfe an den Pfosten, blicke ins finster verhangene naechste Tal und schau nochmals nach oben: da ist die Wolke verschwunden, ich schwoers. Misstrauisch stehn dort die andern im Kreis, aber wenn ein Tropfen mich trifft, so von meiner eigenen Stirn.

Im Wald, beim Abstieg, ist es dunkel geworden, aber wenn ich heraustrete, ist der Tag wieder da. Ich zaehle die Kehren, die ich heraufgestiegen, jetzt wieder zurueck, und bin beim letzten Licht, das der tiefe Himmel dem Tag noch gelassen, beim Seeufer unten. Einige Menschen, auf morschen Baenken, beim Abendgespraech. Ein erleuchtetes Fenster. Ich steige die Holzplanken hinaus auf den See und tauche ins klare Wasser hinein. Von der glatten Oberflaeche steigt Dunst, der morgen Früh Nebel sein wird, und ich schwimme mit kraeftigen Stoessen lautlos und sehe am Grund noch den Schimmer von Sand und tiefgruenen Algenarmen. Als ich die Runden gezogen und wieder ueber den Steg an das Ufer trete (dessen nassfaules Holz ich im finsteren See gerochen habe), haben die leise Redenden das Gespraech schon beendet und brechen heimwaerts auf, und ich, mit fluechtig getrocknetem Haar, hab die Schuhe in der Hand und wende mich um

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Dienstag, 28. August 2012

Die zwei Schwestern

Ich trete die Stufen hinauf zum Tor des Hauses in der Galata Kulesi Sokan, wohın ıch schon einige Male heimgekehrt bin, und drücke an der Sprechanlage die Knöpfe, von denen ich hoffe, dass sie den Freund rufen im 2. Stock, den ich zuletzt alt und gebrechlich gesehen habe, und ans Bett gefesselt.
Ich laeute mehrmals und blicke Gasse hinauf bin zum Turm, der über Galata wacht, das immer noch steht seit Jahrhunderten, ein Teil der Riesenstadt heute. Dann springt die Tür auf mit einem Schnarren, und erwartungsvoll steige ich die Treppe hinauf. Aber wer steht dort, im ersten Stockwerk, feixend, mit aufgerissenen Augen? Hannes, mein Schwager aus Wien! Und wer reisst, nachdem er mich, mir mit dem Finger am Mund Schweigen gebietend, ın dıe Wohnung hat, dort drinnen die Augen nun auf? Renate, meine Schwester, getroffen in der Millionenstadt Istanbul, in der ich für eineinhalb Tage bin, wie einen bestimmten Fisch im Meer beim Sprung ins Wasser, der ich zuhause nichteinmal die Notizen finde vom letzten Trauungsgespraech, ich finde meine Schwester aus Wien in der östlichsten und grössten Stadt Europas, weil sie auch gerade da ist.

Den Freund, den treff ich nicht mehr, im Juni sei er gestorben an Lungenversagen, erzaehlt seie Schwester mir oben im 2. Stock, Ferdinand, der am Herzen litt und bei der Sommerhitze einen Puls hatte von 50:90 (die Aerzte haetten gestaunt, dass man damit überhaupt leben kann), und ich sehe die Familienbilder und erfahre von seinem Sohn in Amerıka, der nicht kommt nach Istanbul, zu beschaeftigt, erklaert mir die Schwester. Ich verspreche, zu beten für sie und den Bruder.

Am Abend steige ich nochmals hınauf mit Sandalen nach Galata, da stürzt mir das Wasser entgegen, denn Wolken sind aufgezogen nach Wochen der Hıtze, und das Gewıtter laeutet krachend eine Wende ein für das fünfzigste Jahr, denn zwei Geschwister gehn heute zum Essen aus, mit Schwager und Söhnen und der gemeinsamen Freundin und Studienkollegin, und wenn auch so viel geredet wurde an diesem Abend, und gut gegessen, so war doch über allem noch immer ein fassungsloses Staunen und vielleicht eine Skepsıs, als wir am Kai den Schiffen zusahn und diskutierten, ob die türkische Behandlung der katholischen, armenischen und syrischen Kirchen nun Christenverfolgung sei oder nicht, und es wurde auch heute wieder nicht alles gesagt


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Montag, 27. August 2012

Am anderen Ende. Galata und die Überraschung

Schiffe durchkeuzen das goldene Horn und den Bosporus wie bei uns in Meidling die Züge. Das Meer gibt der Stadt das Leben.
Im 13. Jahrhundert sind Venedig und Genua reich geworden bei der Unterstützung der Kreuzzüge vom Meer her. Hinter den Rittern haben sie Handelsstützpunkte gegründet und Netze gezogen für den Fernhandel mit China und Indien, auch übers Schwarze Meer. Dazu setzte sich Genua am Bosporus fest und gründete gegenüber der heiligen Stadt Konstantinopel Galata, die Handelsstadt. Noch heute hat Beyoğlu viel von diesem internationalen Charakter, Botschaften, Agenturen, Schiffswerften sind dort, und viele Kirchen von europaeischen Laendern und Ordensniederlassungen. Das Leben wird von diesen geistigen Zentren getragen, und als Istanbul europaeische Kulturhauptstadt war, haben sie alle mitgewirkt.

Es war unumgaenglich, zum Finale dieser Reise die Grenzen Galatas abzutasten und die Reste der Stadtmauer zu finden in dem engen Gassenwerk, die beinahe unabsichtlich übriggeblieben sind, weil sie Haeusern als Rückwand dienten, die nun abgerissen sind. Das letzte laengere Stück, schon in Hafennaehe, ist bereits von Baumaschinen umstellt, und ein bissiger Parkplatzwaerter schreckte aus seiner konzentrierten Unterhaltung hoch, um mir das Fotografieren zu verbieten. Und die alte italienische Dominikanerkirche steht noch. weil sie jetzt eine Moschee ist und saeuberlich gepflegt wird. Am Glockenturm ist sie noch zu erkennen.

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Samstag, 25. August 2012

Edirne beim Umdrehen

Vor zehn Jahren hatte Klaus hier noch baertige Türken und Bulgaren mit Wasserpfeifen und Pumphosen gesehen, ein vergessener Winkel zwischen den Laendern, wo die Zeit vorlaeufig noch abgewartet hatte. Agrarisches Gebiet ohne Meer und Tourismus, Kreuzung der Gastarbeiterrouten, Grenzland, wo nicht investiert wird.
Heute bekommt die Stadt ein neues Gesicht, und ich kann zusehen dabei: Jeden Tag wandern die Sandhaufen weiter, über die wir klettern müssen, werden die gepflasterten Boulevards laenger, über die wir sogleich flanieren, und ich spüre das Aufatmen, sobald sich der Staub gelegt hat.
Die grossen Moscheen künden weiterhin vom Hügel herunter von den grossen Zeiten, als Edirne Hauptstadt des Osmanischen Reiches war und sich anschickte, die ganze islamische Welt zu beherrschen. Von hier brach Mechmet II. auf, um Konstantinopel zu erobern, spaeter Süleymann gegen Wien.
Das Leben strömt zwischen den Geschaeften und Restaurants, Brunnen und Reisebüros, und Abends, wenn es dunkel wird, noch inniger. Nutzniesser dieses Aufatmens sind eindeutig die Frauen. Fröhlich gucken sie aus der Waesche, die sie kürzlich noch verhüllt hat, witzeln als Kellnerin mit dem Chef, wachen als Chefin über die ganze maennliche Küche und die Kellnermannschaft, sitzen mit Freundinnen zum Tee oder flanieren verspielt und verliebt mit dem Freund haendchenhaltend durch den Park. Wer weıss, ob sie auch bald so gleichgültig und fordernd werden wie anderswo, so satt und teilnahmslos - einige misstrauische Minen sind auch zu sehen.
Aber die Stadt der Holzhaeuser und Obststaende hat sich für einen weiteren Atemzug entschieden, und der bringt Licht und Farbe

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Thessaloniki und Rapid

Diese Stadt hat ihren Gang. Betriebsam und geschaeftıg, und auf ihre Weise unbekümmert. Schon als ich sie zum ersten Mal durchquerte und, im Bus angeschnauzt wegen des grossen Rucksacks, staendıg aus den Fenstern Ausschau hıelt nach IKEA, der grossen Busstatıon auf der anderen Seite der Stadt, da schien mir dıe Fahrt nicht enden zu wollen. Unterwegs begegneten mır all dıe berühmten orthodoxen Kirchen und Klöster, wie Inseln umflossen vom Stadtgetriebe, umzingelt von heutigen Plattenbauten. Spaeter mıt Hans sehe ich das genauer; sogar das Kloster selbst ist so sehr erneuert, die Ziegelwaende so glattgeputzt, dıe Fresken in der Kirche so bunt und klar, dass beinahe nur das Wasser traditionell ist, das wundertaetig im Brunnen fliesst und mit dem Hans sich scheu gar nicht zu waschen wagt.
Schneller als ich waren die Rapıd-Anhaenger beim weissen Turm, und beim Fussballspiel am Abend, das in keinem der von Hans empfangenen griechischen Fernsehprogrammen uebertragen wurde, sodass mir nur die abgehackten Bilder vom Internet-Livestream blieben, schoss Rapid das erste Tor.
Aber als ich, am naechsten Tag in aller Früh aufgestanden, dann nervös im Stadtbus sass, da schien der Gang der Stadt beinahe stehengeblieben, und alles wollte sich dazwischenschieben zwischen mich und die Reise durch Trakien, die um Punkt 10 Uhr beginnen sollte in der Gasse hinterm Bahnhof. Dass ich buchstaeblich in der letzten Sekunde dort ankam, hatte ich der Mithilfe des Busfahrers zu verdanken, der mich schon vor der Station herausliess, sodass ich im Laufschritt auf Sandalen mıt Rucksack den Passantenstrom durchpflügen und die letzte Gasse hinaufeilen konnte.
Wahrscheinlich war es dieser traege Gang, dieses breite langsame Fliessen, was allmaehlich und unmerklich die grosse Vergangenheit Salonikis eingeschlossen hat, sodass nun die letzten Monumente wie Inseln daraus hervorragen. Als Paulus hier die Gemeinde gegründet hat, da musste er die Glaeubıgen auch herausrufen (ekklesia) aus dem traegen Gang der Zeit, damit sie hörend würden

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Europas Aussengrenze

Ich habe auf meiner Reise keine besondere Bautaetigkeit bemerken können ım Grenzbereich, und auch keine aussergewoehnliche Militaerpraesenz.
Ich durchquerte mit dem Bus den griechischen Teil Trakiens, fuhr über Serres, Kavala, Xanthi und Alexandroupolis zwischen dem Küstentiefland und der Bergregion, hinter der schon Bulgarien liegt, meist durch sanftwelliges Gelaende. Industrieanlagen, Fabrikshallen, Sonnenblumenfelder, oft vertrocknet, wohl für die Biospritproduktion, wie an den BOSFOREL-, ALIOLI- und SATILIK-Schildern erkennbar. Alexandroupolis liegt als freundliches Badestaedtchen mit unzaehligen Kafenions am Meer. Aber als neue Passagiere hier zusteigen, merke ich, dass es alles Türken sind. In diesem östlichen Trakiens wohnen Griechen, Türken und Bulgaren weiterhin zusammen wie vor Jahrhunderten, hier hat der grossflaechige Bevoelkerungsaustausch zwischen Türkei und Griechenland 1922 nicht eingegriffen.
Vielleicht haette ich etwas sehen können von Taetigkeiten zur Grenzbefestigung, wenn ich über die Strasse von Alexandroupolis direkt nach Edirne haette fahren können. Aber die sei gesperrt, sagt man mir. Über 113 km verlaeuft sie knapp hinter der Grenze, auf der europaeischen Seite. Medienberichte wundern sich über das Fehlen jeglicher Sicherungsmassnahmen dort. 16 km Stacheldrahtzaun? Laecherlich, bei 206 km Grenzverlauf. Zwischen den beiden ehemaligen Erzfeinden also bisher keine Grenzbarrieren.
Von illegalen Grenzübertritten haben die meisten meiner Gespraechspartner gehört in Griechenland und in der Türkei. Vom geplanten Stacheldrahtzaun einige. Von Verminung gar keiner.

Die neuralgische Stelle sei laut eines Berichts der Frankfurter Rundschau die Zone hintere Edirne. Hier macht der Grenzfluss Evros einen Knick, und die Grenze verlaeuft über Land. Ich fuhr mit dem Dolmuş aus Edirne hin: Nach den beschaulichen traditionellen Stadtrandsiedlungen kommen Felder, und dann, hinter Baeumen, der Grenzübergang. Jeder kann da hinkommen. Den Zaun hab ich natürlich nicht untersucht. Aber ich komme zurück mit einer ganz anderen Frage: Was ist denn mit der türkisch-bulgarischen Grenze? Die hat eine aehnliche Laenge, augenscheinlich Hügelland, und ist genausowenig gesichert. Sollte die eine Grenze besser gesichert werden, dann werden sich die Schlepper eben andere Routen suchen, nicht weit weg. Statt Lampedusa wird jetzt Malta angelaufen, liest man.
Man kann um die Grenzfrage nicht herumkommen - über Grenzen schon.

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Medienberıchte:

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/730305/Griechenland-baut-Zaun-an-Grenze-zur-Tuerkei
http://www.fr-online.de/politik/frontex-einsatz-in-griechenland--waechter-an-europas-grenze,1472596,4834854.html
http://www.focus.de/panorama/vermischtes/grenze-zwischen-griechenland-und-tuerkei-schleuser-schiessen-auf-frontex-beamte_aid_719787.html
http://www.google.com.tr/search?q=grenze+t%C3%BCrkei+griechenland&hl=tr&client=firefox-a&hs=1au&rls=org.mozilla:tr:official&prmd=imvns&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ei=9q44UK2KF8SFhQeCoYCgAg&ved=0CFMQsAQ&biw=1366&bih=638
http://www.flucht-ist-kein-verbrechen.de/de/laenderberichte/

Der Philosoph ohne Bücher. Thessaloniki

Hans rettet mich von der staubigen Landstrasse, nachdem der Busfahrer, zuletzt war ich sein einziger Fahrgast. mıt beaengstigendem Tempo gebraust war, sodass ich schon gar nicht mehr erkennen konnte, wo ich war und wo ich aussteigen musste. Mit seinem klapprigen Transporter, der vor zehn Jahren 200 Euro gekostet hat. rattern wir über staubige Wege zu seinem Haus. Die Türen öffnen sıch automatisch, und wir treten ein ins Wunderreich der Erfindungsgabe. Hans ist Elementar-Ingenieur und baut Erdbatterien, Wassermaschinen, die aus der Luft Trinkwasser gewinnen, Sonnenkollektoren, Erdhaeuser um 2000 Euro und ein Windrad, bei dessen Montage ich ein wenig helfen konnte. Er wohnt mit Anna, der Griechin, die seinen Eifer nur in manchen Dingen teilt, und einigen Ziegen, Hühnern, Hunden und Katzen in einem Garten, dem dieser heisse Sommer schon sehr zugesetzt hat.
Hans hat deutsche und Roma-Wurzeln, ist unterwegs aufgewachsen und zeıgt mir stolz Bilder von seinem Auto-Tross, in dem die Ponys und die Gypsy-Queen mit ihm von Ort zu Ort fuhren. Hans ist Akrobat und Bastler, Lebenskünstler und Prediger, Schriftsteller und Arbeitsloser. Und, ob er das zugeben wıll oder nicht: rechthaberisch und selbstbezogen wie ein Deutscher. Anna ist Kommunistin. Für beide gehören dıe Schwarzen zu den wichtigsten Feindbildern, das sind die orthodoxen Priester, und mit ihnen jede Religion, so wie die Regierung, die Banken, die Reichen und Ignoranten, die kontinuierlich die Welt zerstören. Sie fahren mich ans Meer an einen Geheimstrand, hören sich meine Rockmesse an, geben mir Kost und Quartier, zeigen mir Saloniki, spielen mir griechische Volksmusik vor von den Pontus-Griechen (Annas Familie) und von Insel-Griechen, und ich ihnen Harry Stoika auf seiner Indienreise (ich verspreche ihnen das Video zu schicken) und diskutieren mit mir Tag und Nacht. Aber ihr Gegensatz zu Religion und Glaube ist unumstösslich.

Der Religionsersatz von Hans (für Anna könnte ich das nicht sagen) ist sein Glaube an die Rache der Natur - genauer: an den Untergang der Zivilisation bei den naechsten Sonnenausbrüchen kommende Weihnachten. Darin spiegelt sich seine Zivilisationskritik und Verachtung. Seine Dogmatik beginnt mit Ich-Saetzen: Ich habe gemacht, ich weıss es, ich bestitze..., und seine Gottesdienste sind vielleicht die Streifzüge durch die Natur, wo er mir ehrfurchtsvoll zeigt, wie das Meer aus dem Sand mıt Salz harten Stein macht, aus dem man Haeuser bauen könnte. Das Haus, in dem wir wohnen, hat aber Anna gebaut, aus Zıegeln, und dahinter hat ihr Sohn sein Haus aus Holz gebaut. Vıelleicht fehlen Hans die Jünger, um ein Apostel zu sein.

Seine religiöse Konstruktion dient seiner Rechtfertigung. Schuld an der Misere der Welt und an dem Streit, den wir dann doch noch haben, als er die Pfaffen generell beschuldigt, sind die anderen, Unwissenden, der Busfahrer, dieser Faschist, und sogar Anna, weil sie Retsina trinkt und auch mir angeboten hat! mmmm! Zwar nennt er sich einen immerzu Lernenden, aber er sieht sich jedenfalls auf der richtigen Seite - und wenn dann, zu Weıhnachten, die Zivilisation nicht untergegangen sein wird und die naechste Katastrophe wieder nur die Armen der Welt treffen wird, dann wird er seinen Gegensatz und Widerspruch zu Grıechenland, Deutschland, zur westlıchen Zıvılisation und zur heutigen Welt wieder anders formulıeren und darstellen müssen.
Aber es wird derselbe Gegensatz sein.

Da ist meine Religion weltverbundener.

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Donnerstag, 23. August 2012

In Italien versinkt die Sonne nicht im Meer

Das Deck am Schiff zwischen Brindisi und Igoumenica ist eine Buehne. Man flaniert herum wie nach einer geheimen Choreografie, unter strenger Vermeidung jeden Blickkontakts. Wenn die schnarrende Stimme ertoent - attentione attentione - dann erstarrt alles in seiner Bewegung und verstummt, hingewandt zum Lautsprecher ueber dem quadratischen eisernen, gruen lackierten und mit gelben Kreislinien versehenen Personendeck in der Schiffsmitte, das auch als Hubschrauberlandeplatz dient, um augenblicklich, sobald die Nachricht ergangen ist, in der Bewegung fortzufahren, als haette die Unterbrechung nicht dieser Welt angehoert.
Wir fahren vor dem Sichelmond her, der sich seit Wochen weigert, ganz zu verschwinden, als haette er noch eine Rechnung offen.
Paerchen jeden Alters sind an Bord, Kinder tollen ueber das Deck und versuchen im Lauf Kunststuecke, an der Reling sitzen einige Kartenspieler, eine Basketballmannschaft durchstreift das Gelaende grimmigen Blicks, sodass das Deck auch ein Park sein koennte, in dem statt des Springbrunnens die feuchte Luft schmierig am Unterarm klebt und an jeder Stelle, mit der du etwas beruehrst.
Die Gesichter sind nicht die von braun gebackenen schmalgliedrigen Strandurlaubern, sondern gehoeren wettergegerbten Bauarbeitern aus dem Bergland, frisierten Jungakademikern, einigen heimkehrenden griechischen Toechtern, wuschelkoepfigen Philosophen, drei Geschaeftsmaennern mit Sacko, die selbst waehrend der Durchsagen nicht vom Handy lassen, einem Deutschen mit roter Kniehose, Kinnbart und Hornbrille, der immer wieder der Meeroberflaeche kontrollierende Blicke zuwirft, sowie einer Romafamilie mit mehreren kleinen braunhaeutigen Frauen und unzaehligen Kindern, von der ich aufrichtig hoffe, dass sie sich nicht auf dem Platz neben der Stiege niederlaesst zwischen meiner Bastmatte und der durchsichtigen Doppelluftmatratze des griechischen Paares.
Albaner mit knochigen Gesichtern, eine braungesonnte Diva auf breiten Pantoffeln, ihre wogende Weiblichkeit hochgehalten von einem Sommerkleidchen, eine griechische Bankerfamilie mit kreuzbraven Gesichtern und zwei wohlerzogenen Buben, die einander das Meer erklaeren.
Am Deck sind mehrere Aschenbecher angebracht, und wirklich rauchen die meisten und stauben ihre Zigaretten daran ab.Gerade steht breitbeinig die Diva ueber mir und klopft die Zigarette aus, und es koennte sein, dass sie dabei mich, der ich an der eisernen Rueckwand sitze und ins weisse Licht ueberm Schornstein schaue, mit einem milden Blick bedacht hat. Am Schiff von Genua nach Palermo hat mir die Saengerin, die in der Bar vor der unablaessig vorbeistroemenden Passagiermenge des Nachts stundenlang zu Musik vom Band sang und mir dabei recht verloren vorkam, weil alles redete und niemand sie beachtete, mehrere freundliche Blicke und ein Laecheln geschenkt, waehrend sie sang, und war mir von einem Ende der Bar bis zum andern gefolgt.
Amerikaner mit Bierflaschen treten ins violettblaue Nachtlicht und zeigen mit ausgestreckten Armen uebers Schiff bis zum Horizont, als wuerden sie beschreiben, was alles ihnen gehoert oder wo sie schon gewesen sind. Ein schmaler griechischer Geschaeftsmann mit weissem T-Shirt durchkreuzt diagonal das Deck und leuchtet dabei wie eine Hafenboje. Zwei Matrosen, einer mit Abzeichen auf der Schulter, der andere mit einem Schraubenschluessel in der Hosentasche, queren jede halbe Stunde den Platz, entweder mit dem Handy am Ohr oder einer Zigarette in der Hand.
Laengst hat sich die Sonne davongemacht, ohne das Meer beruehrt zu haben.Denn einen Fingerbreit ueber dem Horizont liegt eine undurchdringliche Dunstwand und verhuellt sie fuer die letzten Minuten des Tages, als wuerde sie sich schaemen, beim Eintauchen ins Nasse gesehen zu werden.
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