Nach der Grenze tasten

Mittwoch, 22. August 2012

Beobachtungen

Ein Streit an der Bushaltestelle.
Zwischen den verstreut auf Baenken, Betonsockeln oder Fenstereinfassungen sitzenden oder stehenden Passanten werde ich auf einen Streit aufmerksam zwischen einer Frau und einem Mann, beide links und rechts an einen der oeffentlichen Muelleimer gelehnt oder ein paar Schritte machend hin und her.
Zuerst lautstark (da werde ich aufmerksam), mit deutlichen Zeichen des Widerspruchs und der Zumutung der Haltung des jeweils anderen. Ich meine, ohne ein Wort zu verstehen, in der Frau die Protestierende und im Mann den Beschuldigten zu erkennen. Sie koennte aus einfachen Verhaeltnissen stammen und duerfte umn die 40 sein, er ein Mittelschichtler in den 30ern, sportlich, mit Kurzhaarschnitt.

Es muss auf die insgesamt desolate Situation hingewiesen werden, auf die Absperrungen einer Baustelle gerade zwischen Wartebaenken und Busankunft, auf das Stahlgeruest des unfertigen Wartehaeuschens, auf ein voellig leeres Stationsgebaeude und auf die diesen Platz umgrenzenden Hauptstrassen, die von klotzigen Betongebaeuden gesaeumt sind. Gegenueber habe ich an einer noch oederen Stelle den Hauptbahnhof Materas entdeckt, der wie eine U-Bahn-Station nur ein Einstiegshaeuschen besitzt, das von vielen Absperrungen aber eher ausgegrent als zugaenglich wird, zu einer unterirdisch noch schlimmeren Trostlosigkeit. Das ganze Gelaende ist uebrigens gleichmaessig vermuellt, wofuer der gruene Muelleimer aus Plastik eine zentrale Signatur sein kann.

Auffaellig an dem Streit, der von den uebrigen Wartenden diskret beobachtet wird, ist, dass nicht geschrien wird und keiner ausfaellig zu werden scheint. Es geht um Argumente, und das, was die beiden einander zuwerfen, wird immer wieder von Nachdenkpausen unterbrochen. Wohl sind die Suaden sehr emotional, wohl gibt es deutliche Zeichen der gegenseitigen Ablehnung wie die demonstrative Abwendung, beschuldigende Gesten, sowie ausweichende Bewegungen wie das Hervorholen und Studieren des Handydisplays waehrend der Rede des anderen. Aber obwohl nur der Plastikkuebel die beiden trennt, werden sie nicht handgreiflich. Schliesslicyh scheint es Versuche der Befriedung und Kompromissangebote zu geben, und zwar von seiten des Mannes, was ich aus dem ruhigen Tonfall und der gelegentlichen Beruehrung des nackten Oberarms der Frau schliesse, sodass diese zwar den Tonfall maessigt, aber augenscheinlich nicht zustimmt.
Schliesslich verlassen beide, ohne erkennbares Schlusswort, in entgegengesetzten Richtungen den Ort, ohne sich umzudrehen, und sie sehe ich in ihr Auto steigen. Sie haben also nicht auf den Bus gewartet, sondern sich nur wegen des Streits dort aufgehalten.

Dienstag, 21. August 2012

Ist der Mensch zu rechtfertigen?

PLANUNG EINES SYMPOSIUMS IN MATERA FUER WINTER 2013 - in der Woche der Semesterferien.


Diese Frage wird von einem Richter gestellt.
Sie setzt einen Hintergrund von Gesetzlichkeit und Richtigkeit voraus - und sie wird abgehandelt vor einem Forum, das sich ein Urteil zu bilden versucht.
Zum ersten Mal erschien Gott vor diesem Forum, und er rechtfertigte sich vor Hiob nicht mit Vernunftsgruenden und mit einem bestimmten erkennbaren Sinn der Ereignisse, sondern mit der Unzugaenglichkeit und Unbegreiflichkeit seines Gottseins.
Wo warst du, als ich die Welt erschuf?

Dann sass das Synhedrium in Jerusalem ueber Jesus Gericht. Der rechtfertigte sich nicht eigens, d.h. er fuegte seinen Worten und Taten, die bereits oeffentlich ergangen waren, keine neuen hinzu. Auch Jesus sieht sich durch seine blosse Existenz gerechtfertigt.

Waehrend die Psalmen haeufig zwischen Gerechten und Ungerechten unterscheiden, Tobias oder Ester als Gerechte angefuehrt und darin auch von Gott bestaetigt werden, so bezieht Jesus in den Evangelien diese Differenz nicht auf die fromme Lebensweise der Menschen, sondern auf ihren Existenzbezug auf ihn selbst, der im Armen, Hungernden und Gefangenen erscheint. Jesus folgt der prophetischen Tradition, an die Sorge fuer die Armen zu mahnen, und radikalisiert sie, indem er selbst in den Armen erscheint.
In seiner Liebe zu den Armen waere der Mensch gerechtfertigt.

Bei Paulus findet sich kein Handlungskriterium, sondern reine Theozentrik: Nur Gottes Gnade kann den Menschen rechtfertigen, nicht sein Judesein und nicht seine Gesetzestreue.

Dann hat der Mensch lange versucht, den Menschen gerechtfertigt sein zu lassen durch die Taufe. Sie wuerde ihn in eine andere Ordnung stellen: Die gerechtmachende Zuwendung Christi in den Sakramenten wuerde den Menschen in seiner Selbstgerechtigkeit (Augustinus: Concubiscentia) heilen und gnadenhaft den Gottesbezug wiederherstellen.

Aber inzwischen versucht der Mensch, durch sich selbst gerechtfertigt zu werden. Durch seine Leistung, seine (partikulaeren) Erfolge, durch sein Glueck und Wohlergehen, durch den Wohlfahrtsstaat und ueberhaupt durch den stetigen Fortschritt. Ist die stetige Weiterentwicklung (Evolution), die alles in Fluss bringt, geeignet, den Menschen zu rechtfertigen? Immer der naechste Mensch den vorigen? Die Moral des naechsten Schritts?

Und, diese Frage sei mir noch gestattet: Ist der Fortschritt vor dem Menschen und ein ihm uebergeordnetes Prinzip, oder nach ihm und bloss das (blinde) Ereignis seiner Entwicklung? Das waere naemlich die Frage, ob die Rechtfertigung in der Religion zu suchen ist oder im Diesseits, also nur vorlaeufig.



Das ware der Ort des Symposiums, in einem ehemaligen Kloster, neben dem normannischen Dom, mit Ausblick ueber die ganze Stadt:

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Bei Interesse bitte eine kurze Meldung!

Quartiere. Zwei Immigrantengeschichten

Metaponto ist kein malerisches Staedtchen, obwohl die Ausgrabungen aus der Griechenzeit im Fuerer erwaehnt sind. Auch Pythagoras, der sich in seiner Wahlheimat Kroton eigentlich recht wohl gefuehlt hat, kam nur zwangsweise hierher in die Verbannung wegen seiner allzu engagierten politischen Einmischungen.
Mein Streifzug durch die bruetende Siedlung an einem Hundstage gab mir ein Bild von sozial weit auseinander liegenden Bevoelkerungsgruppen sowie von Afrikanern auf Fahrraedern und beim Wasserholen.
Am weiten Weg zum Ausgrabungsfeld fand ich zwischen der Siedlung und den Weinplantagen ein sudanesisches Containerdorf.
Imbrahim kommt aus Darfur - wie alle seine Freunde hier, die aber mangels Englischkenntnissen misstrauischer sind als er. Mit dem Schiff sei er nach Sizilien gekommen, erzaehlt er und zeigt mir bereitwillig seinen Pass, den er offenlichtlich immer bei sich traegt. Er waere also anerkannt hier, faende aber kaum Arbeit. Die landwirtschaftlichen Betriebe seien klein und wuerden nur zu bestimmten Zeiten tageweise ein oder zwei Erntehelfer beschaeftigen. Wasser und Quartier seien gratis, aber darueber hinaus gebe es keine Unterstuetzung vom Staat. Sie wuessten meist kaum, was sie essen sollten.

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Keita Mamandoo treffe ich am Bahnhofsplatz, wo er auf denselben Bus nach Matera wartet wie ich. Er stammt aus Guinea, ist 21 Jahre alt und hat seine Mutter, einen Bruder und eine Schwester, sowie seine Frau und seine Tochter dort zurueckgelassen, um in Europa sein Glueck zu versuchen. Mit einem grossen Schiff, so betont er, sei er von Libyen nach Lampedusa gekommen und war einen Tag mit vielen anderen Fluechtlingen dort im Lager, am 29. Juli 2011. Dann waere er nach Neapel gebracht worden, und von dort mit dem Bus nach Gravina, wo er jetzt in einem kirchlich gefuerten Heim untergebracht sei. Fuer eine versprochene Pizza fuehrt er mich ueber viele Stationen in diese beschauliche Siedlung im Huegelland der Basilikata. Und das Heim ist wahrlich ein Juwel. Stolz erzaehlt mir die freundliche Dame an der Pforte, dass ihre Schuetzlinge aus Guinea, Bangladesh, Nikgeria, Ghana und Libyen kaemen, und dass sie hier mit Essen und Taschengeld versorgt wuerden und im uebrigen frei waeren.
Dann eile ich zurueck, um den letzten Zug nach Matera zu erreichen, so schnell man mit Sandalen eben gehen kann. Keita laesst es sich nicht nehmen, mich nocheinmal quer durch die Siedlung zu begleiten und darauf zu achten, dass ich den richtigen Zug nehme.

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Sonntag, 19. August 2012

Die Menschen, die aus der Hoehle kamen. Matera

* ist die Stadt in der Basilikata, noch im Huegelland, vor der Ebene zum Meer hin, gleichweit zum Ionischen und Tyrrenischen Meer. Ueberm Stiefelabsatz. Wahrzeichen der Stadt - die sich als Kulturhauptstadt 2019 bewirbt:
die Sassi.
Wohnhoehlen.
Felsenkirchen.
Aus den Jahrhunderten der fremden Herren.
Noch im 20. Jahrhundert bewohnt.
Von Familien mit ihren Tieren.
Unrat, Abfaelle.
Krankheiten.
Kindersterblichkeit.
Billige Arbeitskraefte auf den Feldern der Adeligen, die ihre Palazzi oberhalb bauten. Die Fenster in die andere Richtung.
Ueber der Armut war die ganze Stadt gebaut.
Erst in den spaeten Fuenfzigerjahren wurden die Bewohner in andere Haeuser umquartiert und die Sassi saniert.

Die Hoehlen im Tuffstein sind dieselben wie in Kappadozien. Die Felsenkirchen erinnern an Lalibella. Das Felsenkloster aus Sumela, unlaengst spektakulaer von den Tuerken wieder geoeffnet.
Der Mensch verkriecht sich in der Erde, wenn es im Freien zu unsicher ist.
Moenche aus Palaestina und Syrien sind hierher gekommen und haben ihre monophysitischen Braeuche mitgebracht, andere ihre Bilder. Als im Osten der Bilderstreit wuetete, haben sie hier auf Hoehlenwaende gemalt. Alle Kirchen und Kloester im selben Felsen nebeneinander. Spaeter hat man barock darueber gearbeitet.
Aber als die Menschen aus der Erde heraus gebracht wurden, da verfiel vieles und wurde gestohlen.
Gespenstisch, die jetzt verschimmelten Barockhoehlen.

Die Reduktion des Menschen auf die Erde kann ihn arm machen und sein Elend mehren.
Oder er kann frei werden, wenn der Geist mitgekommen ist in die Erde.
Jesus ist mindestens zweimal geboren worden in diesen Hoehlen.
Sogleich verfolgt worden, dann herausgekommen aus der Erde, hat gepredigt und geheilt, ist ueberm Tal gekreuzigt worden und nocheinmal aus der Erde gekommen.
Bei Passolini, dem besten Jesusfilm.
Und beim schlechtesten zuletzt.

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Samstag, 18. August 2012

Ich habe in den Vulkan gespuckt

Hat jemand erwartet, dass ich den Aetna nur von unten bestaune?
Die schwarzbraune Lava im Graben um die Zwingburg Friedrichs II. im Vorbeigehen betrachte,
und mich an die dunklen Fassaden Catanias gewoehne, die aus Vulkanstein gemacht sind?
Oder haette ich mich einer der so abenteuerlich beschriebenen Vulkantouren anschliessen sollen, die auf bunten Prospekten in den Hotelrezeptionen angepriesen werden?

Nun, ich fuhr mit dem Linienbus bis zur Endstation, zugleich Souveniercamp und Talstation der Seilbahn, immerhin bereits auf 2000 Hohenmetern. Und dann startete ich, mit Rucksack, ein wenig Proviant, 3 L Wasser, leichten Wanderschuhen und grosser Neugier. Entlang des breiten Lavastroms des letzten Ausbruchs. Einen Sessellift und ein paar Haeuser hatte der verschlungen.
Vulkansteigen ist wie Strandlaufen.
Jeder Schritt versinkt weich knirschend.
Zwei Schritte hinauf, einen zurueckrutschen.
Die haerteren Steine wie Kohle.
Zuerst der steilste Anstieg, der Blick nur entlang der Seilbahntrasse.
War dort bereits der Lavasee?
War ich weit genug vom Seilbahnsummen weg, hoerte ich Knallen.
Zuerst sah ich einige Bergsteiger vor mir, zwei Paare, noch einer.
Dann waren sie verschwunden.
Sie werden doch nicht vom Vulkan verschlungen worden sein, so weit noch vom Gipfel?

Als ich mich ueber graue, schwarze, roetlich schimmernde Haenge hinaufgekaempft hatte bis zur Bergstation, zuweilen gruene Kraeuterpolster auf der Seite, da stand ich eigentlich erst am Beginn, das sah ich jetzt.
In den Tross der Kraterstuermer mich einreihend, stieg ich auf der Kiesstrasse flott weiter, auf der Gelaendebusse die Sehlustigen hinaufhievten, moeglichst das Geplapper und Gesumse hinter mir lassend, auf den Saumwegen ueber Vulkangeroell schon viel langsamer.
Am markierten Endpunkt menschlicher Anstrengungen/
waren es noch 300 Meter bis zum Kraterrand.
Hoehenmeter.
In blauem Dunst.
Im Dunst versteckt.
Weisse Woelkchen von sich gebend,
Friedenszeichen oder Taeuschungen.

Ob ich den Vulkangoettern begegnet bin?
So nah an den Kraeften der Erde?
Nun, ich habe keine Praesenz bemerkt, auch nicht, als ich allein war. Naturkraefte schon, die Sonne, den Wind, die Schwerkraft, den Schwefel. Aber keine Praesenz, die mich erwartet haette.
So wie in Lampedusa das Militaer. Als ich in der Inselhitze das Fluechtlingslager umschlich und mich beobachtet waehnte. Als ich riet, ob nur Soldaten oder auch uebers Meer Gekommene hinter den Zaeunen waeren.


Und dann die Nebenkrater.
Wie Mondkrater.
Zuweilen rauchend.
Bestaunt, begafft, umschritten.
Grau, schwarz, farbig, schwefelgelb.
Und ueber allem der boeige Bergwind, der das Gesicht trocknet.
Immer ein wenig Staub in der Luft,
und Schwefel.

Erst bei den Kraterabstiegen wurden meine Schuhe voll.
Mehrmals musste ich sie ausklopfen.
Wie Strandlaufen.
Schwarzen Staub auf den Waden hab ich bis in die Stadt hinuntergebracht.

Und ich wusste beim Abstieg:
Haetten unsere gewiften Provinzpolitiker hier etwas zu reden, so wuerden sie sich nicht mit Prestigeprojekten abgeben wie Berlusconi, der Sizilien mit Italien durch eine Bruecke verbinden wollte: sie wuerden die Hochleistungsbahn mittels des Jahrhunderttunnels mitten durch den Vulkan bauen. Der Ruhm Europas waere ihnen sicher.

Zum Rhythmus des Lebens. Catania

In * pulsieren die Raume.
Schon als ich hier ankam, musste ich durch die Maerkte dringen, durch Geschrei und Gerueche, um mein Hostel zu finden - und die Fleischhacker halfen mir - durch Gewuehl und Geschiebe mich schieben mit meinem Rucksack, an aufgeschichteten Fischleibern vorbei und ausgelegten Schweinehaelften, an Obstbergen und Salatbergen, Nuessen und Hueten.
Das war die Schwelle.
Am Nachmittag, als ich wieder hinaustrat, war die Gasse leer, wurden noch die Gehsteige gefegt und die Kisten verraeumt.
Leere Plaetze.
Verwaiste Cafes.
Bis zum Abend.

So kuendigte sich der Gang der Stadt an, den ich mitgehen wollte, und tappte gleich bei den ersten Schritten wieder ins Leere.
Marienfeiertag.
Alles geschlossen, leiser Wind ueber leere Plaetze.
Und dann noch eine Ueberraschung, als die Stadtpatronin gefeiert wurde, die heilige Agatha, von Boellerschuessen angekuendigt, so laut, dass Sirenen der Alarmanlagen losgingen, Hunde jaulten und Kinder weinten. Glocken wie Musik. Dann die Umzuege, mit allem, was Rang und Namen hat. Und schliesslich die Priesterschaft mit der Heiligen selbst, knochenweise im Glasgefaess, unter ausladender Glockenmusik.

Wie Blut wurden Menschen durch die Gassen und Plaetze gepumpt, lebende und tote, wie Blut durch Aterien, Venen und Kapillaren.
Systole und Diastole.
Laut und heftig,
leere und leise.

Aber der Rhythmus dieser Tage deutet auf einen anderen, welcher der Stadt noch viel mehr eingeschrieben ist.
Sichtbar auf Schritt und Tritt.
Alle paar Jahre ruehrt sich der Mongibello,
ruckt und drueckt unter seiner duennen Schale,
brodelt und kocht ueber,
auch bereits in diesem Jahrtausend.
Und dann waelzt sich wieder die Lava ueber die Haenge,
unbeeindruckt von menschlichen Anstrengungen,
schiebt sich hinunter auf die Stadt zu, unaufhaltsam,
unter flimmernder Luft knicken Baumstaemme und Hausmauern,
und darueber leuchten Feuerwerke bei Tag und bei Nacht,
und eine Steinkanonade prasselt auf die Daecher.
Wer wohnt dort?
Wer hat dort sein Haus gebaut in ruhigeren Zeiten?
Seit den alten Griechen wollten sich die Menschen diesen Kraeften stellen.
Aber beherrschen konnten sie sie nie.
Auch heute nicht.
Der Vulkan wird staerker und gefaehrlicher von Jahr zu Jahr.
Der Rhythmus Catanias ist zwischen Sein und Nichtsein.

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Dienstag, 14. August 2012

Immigranten

Vom Satelliten aus hatte ich bereits einige Glashaeuser rund um Ragusa gesehen. Es handelte sich jedoch, soviel konnte ich vom Zug aus sehen, kaum um Grossbetriebe, und mit Massenbeschaeftigung von afrikanischen Einwanderern war hier nicht zu rechnen.
Bei der Abreise von Ragusa sah ich im unbesetzten Bahnhofsgebaeude zunaechst eine Rumaenin bei der Waesche im Wartesaal, und dann, heraustretend, noch erstaunlicher einen Mann, in grosser Ernsthaftigkeit seine Waesche an der Bahnsteigkante mittels Wasserhahn und Waschmittel (das mir fehlte!) waschen und durch heftiges Klatschen auszuwringen. Spaeter schlichtete er die Kleidungsstuecke zum Trocknen einzeln ueber das blaue Schild mit dem Namen der Stadt. Waehrend ich verwundert der spindelduerren Rumaenin zusah, die den Kuebel mit Seifenwasser die Gleise entlangschleppte und irgendwo ausleerte, als waere das alles ihre Waschkueche und wuerde sie das jede Woche so machen, sprach mich ein junger Afrikaner an, der sich als Samir aus Ghana vorstellte, spaeter aber, als er mir seine Dokumente zeigte, auf Somalia und dann auf Aethiopia als Herkunftsland korrigierte - denn diese alle Sprachen beherrschte er. Im Pass stand Somalia, ausgestellt in der Schweiz, mit einem raetselhaften Bild. Holland und Daenemark haette er auch bereist, auf Italien schimpfte er, weil es keine richtige Arbeit gebe.
Spaet erwaehnt er seine Frau in Palermo, rief sie dann aber an und gab mir sein Handy, damit ich mit ihr spraeche.
Ich erkannte, dass er unter Drogen stand, er gab es zu.
Er war sehr ueberrascht ueber meine direkte Ansprache, suchte nicht nach Ausreden, und schien ueberhaupt wenig Gespraechspartner zu haben. Es gebe keine Afrikaner hier, sagte er, jedenfalls haette er keine Kontakte.
Ich forderte ihn auf, richtige Arbeit zu suchen. Er gab sich hoffnungslos, haette schon alles versucht, seit vier Jahren.
Er nannte sich einen Muslim und wusste vom Ramadan. Er haette auch nichts gegessen - als ich ihn aufs Rauchen ansprach, gab er zu, den Ramadan nicht zu halten.
Im Ganzen wirkte er sehr interessiert an Gespraech und Kontakt, hatte sich aber sehr vernachlaessigt und wirkte desillusioniert und hoffnungslos. Als mein Zug kam, bettelte er mich um Geld fuer Drogen an, was ich ihm verweigerte. Trotzdem verabschiedete er sich freundlich.

Der entgrenzte Mensch

Die Eigenschaftslosigkeit ist bereits recht nachvollziehbar als mystischer Terminus dargestellt worden, etwa mit der Bedeutung, der eigene Charakter, das Ich wuerde nicht als Besitz verstanden werden, als feststehende Entitaet, sondern nur rein als Vollzug in fortwaehrender Veraenderung. Die mystische Bedeutung gipfelte in der Absage an die Selbstverfuegung und in der Gottesverfuegung. Es laesst sich das nicht in zwei Handlungsweisen aufloesen, sondern der Terminus ist ein GRENZBEGRIFF, der eine Tendenz oder eine Wuenschbarkeit formuliert, sozusagen eine Membran, die durchlaessig ist fuer eine andere Wirklichkeit/Bezueglichkeit.

Ulrich, der Mensch, der sich als eigenschaftslos bezeichnet, demonstriert das mit sichtlicher Begeisterung in den sogenannten Heiligen Gespraechen mit seiner "Zwillingsschwester", wo Zitate von Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg, Avicenna oder Pseudodionysos deklamiert werden. Sich allen Besitzstandes zu entauessern ist die Leidenschaft: "Wirf alles ins Feuer, bis zu den Schuhen", und das Ich dazu. Wenn es Ulrich auch bis dahin relativ weit gebracht hat in der Tatenlosigkeit, indem er die Karriere an den Nagen gehaengt hatte und seine weitere Beschaeftigung nur wie nebenher anlegt, so bedarf besonders Agathe baldigst entschiedener Taten.

Es fehlt aber, um den Terminus existenziell zu verankern, irgendeine Art von Gottesbezogenheit. Zwar spricht nichts dagegen, seine negative Theologie ernst zu nehmen, aber die kann, wenn sie mehr sein will als ein leerer Gestus, nur das zweite sein nach einer affirmativen Theologie, und diese fehlt bei Ulrich vollstaendig. Was er immer wieder "Gott" nennt, ist eine Maske, und gerade nicht im negativen Sinn.

Ulrichs Selbstentwicklungsprogramm der "Enthaltung von der Welt" ist nichts anderes als eine Selbstentgrenzung aus der Sicht des 21. Jahrhunderts. Diese Art von subjektiver Freiheit kann als Endpunkt (point of no return) der ganzen Aufklaerungsgeschichte gesehen werden. Es geht um moeglichst weitreichende Beziehungslosigkeit, beginnend bei Autoritaeten und Althergebrachtem, um Losloesung von Verpflichtungen (ohne dass auf den Genuss von menschlichen Kontakten verzichtet werden muesste: Bonadea), und schliesslich um die Selbsterfindung. Ulrich vergleicht sich mit der Figur auf den Seiten eines Buches, und will das auch seiner Kusine empfehlen: "Wir wollen uns lieben wie die Figuren auf den Seiten eines Buches!" Waehrend diese Verhandlung ihm nichts einbringt, und Bonadea sich zwar auf ihn, aber nicht auf seine Konstruktionen einlaesst, scheint es mit seiner Schwester Agathe vielversprechend anzugehen. Ulrichs Testamentfaelschung ist ein erster Schritt zu ihrer beider Selbstkonstruktion. Ihr Zusammenleben mitsamt den "Heiligen Gespraechen" ist als weiterer Schritt aufzufassen, auch wenn Agathe dessen Ambivalenz nur schwer ertraegt.

Ein weiteres Element der Selbsterfindung, und vielleicht das augenscheinlichste, ist Ulrichs "Jenachdem"-Moral. Ohne Grundsaetze und Leitlinien ausser der ruecksichtslosen Selbstentfaltung konstruiert sich der eigenschaftslose Mensch immer neu: "Er kann zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen ... denn der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln"(MoE 257), verbot die Bindung an etwas Feststehendes. Darin liegt der eigentliche Grund fuer Ulrichs Schwaermen vom Ingenieursdenken. In der erzaehlten Zeit, dem Ende der k. und k.-Monarchie, galt das Ingenieurswesen als Motor der Moderne. In der Abfassungszeit erlebte Europa die Neukonstruktion von Mensch und Gesellschaft im Faschismus und, laenger waehrend, in der kommunistischen Staatsideologie. Heute jedoch, nach jahrzehntelanger buergerlich-sozialistischer Fortschrittsideologie der Entfesselung des Subjekts, scheint das Aufklaerungsprogramm an sein Ende gekommen zu sein. Denn erst im massendemokratischen Wohlfahrtsstaat ist es moeglich geworden, ohne Bindung und Verpflichtung sich fortgesetzt selber neu zu erfinden und zu modellieren.
Aber was diese Existenzform ermoeglicht, verpflichtet ja vielleicht auch dazu, ohne das das beabsichtigt war. Denn die Freisetzungen in der Arbeitswelt, im familiaeren Zusammenleben, in der eigenen Biografie, im Weltbild und in der Religion erfordern inzwischen eine bestimmte Art von Tuechtigkeit. In dieser Lebensweise folgt die verkabelte Facebook-Jugend ihren Eltern und Grosseltern, die die Jahrzehnte ihrer Pension mit Fernsehserien gestalten oder die Zwischenraeume ihrer Stressberufe mit Computerspielen. Die Simulation der Wirklichkeit ist wirklich von langer Hand vorbereitet. Und wenn nichts mehr gilt, dann verschafft man sich Geltung.
Also war der Mann ohne Eigenschaften doch ein Prophet.

Die doppelte Stadt. Ragusa

Vergesst nichts von dem, was bisher zu sehen war von den Staedten, Achsen und Ausblicken. Denn jetzt geht es noch einen Schritt weiter.

Als 1693 ein verheerendes Erdbeben Ragusa voellig zerstoert hatte, konnte man sich nicht entscheiden, ob die Stadt auf dem alten Truemmerfeld oder am benachbarten Huegel wieder aufgebaut werden sollte. Und so gibt es zwei Barockstaedte dieses Namens, durch einen tiefen Graben getrennt und verbunden. Aber es sei gesagt, dass die Verdoppelung Ragusas nur eine Seite der Raffinesse dieser Stadt ist. Denn in den Simsen und Voluten der Palazzi lauern noch unzaehlige Beobachter, deren Blicke Ragusa noch einmal vervielfaeltigen. Und so weit auseinanderklaffend die Blickwinkel auch sein moegen, die zum Berg oder gegen Stockwerke, gegen Haeuserfronten oder ins Tal hinunter, in Zwischenraeume hinein oder ueber die Daecher hinweggehen - in einem werden sie sich bestimmt alle einig sein: An den Augustnachmittagen wird alles, was nur irgendeinen Funken Verstand hat, in schattigen Kammern ruhen. Der Rest sind Reisende

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Sonntag, 12. August 2012

Die Befreiung. Syracusa

Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande;
Ihn schlugen die Häscher in Bande.
“Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!
Entgegnet ihm finster der Wüterich. –
“Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
“Das sollst du am Kreuze bereuen."


In der bruetenden Samstagspaetvormittagsstille, als ich um Ecken schlich und rechtwinklig geschnittene Palazzi bemass nach Geratewohl, so machte ich doch manche Entdeckung. Ein Internet-Point gewaerte mir eine Pause, und dann zuletzt auch eine Einsicht, dass es naemlich ein Hostel gaebe in der Stadt. Ich fand es auch in der wirklichen Welt, in Bahnhofsnaehe, allein das letzte Bett war gerade vergeben. Ebenso ergings mir bei der dort empfohlenen Adresse, und spaeter noch einmal. Jedesmal war mir wie von Geisterhand jemand zuvorgekommen, und ich meinte bereits aus den Augenwinkeln den Schatten zu spueren der Vorbeihuschenden. Und ich war daran, aufzugeben die Suche und die Stadt, und tat das kund, und machte noch einen, letzten, Versuch. - Warum denn immer alles bis an die Grenze gehen muss.

Eine junge Dame oeffnete mir mit Wolle im Haar, und fuehrte mich in ein winziges fensterloses Zimmer, zu einem vernuenftigen Preis, und kuendigte an, selbst das Fruehstueck ins Zimmer zu bringen.

Von da an war ich frei.

Nun ueberschritt ich die Bruecke zur Halbinsel Ortygia, und betrat ein zweites Venedig. Keine Gasse, die nicht aufs Meer ging. Fassaden zum Meer, Festungsmauern, Ausblicke. Aber auch zum Land hin gab die Stadt das Meer wieder. Denn die Gassen verliefen in Wellen. Kurven, Schlangenlinien, aufwaerts, abwaerts. Das muss man einmal gesehen haben. Dann die Fensterboegen. Kuppeln. Und sogleich uebertrug sich das Wogen des Meeres auf die flanierende Menge.

Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde an Stunde entrinnet,
Da treibt ihn die Angst, da faßt er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.


Der grosse Hoehepunkt: der Dom. Schon der Platz in einem Halbrund. Die Doppelsaeulen am Portal rund, gewellt, anschwellend. Und, um es eindeutig zu machen: Ganz oben mit Blick hinaus aufs Meer thronte die muetterliche Jungfrau in aller Weiblichkeit, die Kirche oeffnend fuer Suchende das Ferne und Nahe.
Und wie zur Bestaetigung woelbt sich die Laengsseite des Doms, darin noch die Saeulen des Athenetempels zu erkennen waren, der hier errichtet wurde zum Anlass des Sieges ueber die athenische Flotte, deutlich nach aussen, einen Bogen beschreibend. Immer noch heisst der Platz davor nach der Minerva, mit Athenas roemischem Namen. Auch Diana, mit dem Bogen aus dem Brunnen zielend, aus dem Wasser!, von Pferden und Kriegerinnen umgeben, herrscht hier, und ueber allen, den Syrakusern am naehesten, Lucia, die Stadtpatronin - ihre Kirche gegenueber, mit geschwungen-gedrehten Saeulen. Alljaehrlich werden ihre Reliquien durch die gewellten Gassen getragen, um die Stadt zu benetzen mit ihrer geduldig-treuen Gegenwart.

So weiblich ist die Meeresstadt, so lebendig erhebt sie sich ueber die schachbrettartige Festlandsstadt, in der Tyrannen herrschen moegen.
Hat nicht aber Damon den Freund befreit UND den Feind ueberzeugt, als er die Schwester zur Hochzeit fuehrte?

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grenzwaertig - 30. Sep, 18:59
Sehr herbstlich
und philosophisch bist du geworden! Sinnierend wie...
Gedankenbilderbuche - 30. Sep, 18:49

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