Samstag, 25. August 2012

Edirne beim Umdrehen

Vor zehn Jahren hatte Klaus hier noch baertige Türken und Bulgaren mit Wasserpfeifen und Pumphosen gesehen, ein vergessener Winkel zwischen den Laendern, wo die Zeit vorlaeufig noch abgewartet hatte. Agrarisches Gebiet ohne Meer und Tourismus, Kreuzung der Gastarbeiterrouten, Grenzland, wo nicht investiert wird.
Heute bekommt die Stadt ein neues Gesicht, und ich kann zusehen dabei: Jeden Tag wandern die Sandhaufen weiter, über die wir klettern müssen, werden die gepflasterten Boulevards laenger, über die wir sogleich flanieren, und ich spüre das Aufatmen, sobald sich der Staub gelegt hat.
Die grossen Moscheen künden weiterhin vom Hügel herunter von den grossen Zeiten, als Edirne Hauptstadt des Osmanischen Reiches war und sich anschickte, die ganze islamische Welt zu beherrschen. Von hier brach Mechmet II. auf, um Konstantinopel zu erobern, spaeter Süleymann gegen Wien.
Das Leben strömt zwischen den Geschaeften und Restaurants, Brunnen und Reisebüros, und Abends, wenn es dunkel wird, noch inniger. Nutzniesser dieses Aufatmens sind eindeutig die Frauen. Fröhlich gucken sie aus der Waesche, die sie kürzlich noch verhüllt hat, witzeln als Kellnerin mit dem Chef, wachen als Chefin über die ganze maennliche Küche und die Kellnermannschaft, sitzen mit Freundinnen zum Tee oder flanieren verspielt und verliebt mit dem Freund haendchenhaltend durch den Park. Wer weıss, ob sie auch bald so gleichgültig und fordernd werden wie anderswo, so satt und teilnahmslos - einige misstrauische Minen sind auch zu sehen.
Aber die Stadt der Holzhaeuser und Obststaende hat sich für einen weiteren Atemzug entschieden, und der bringt Licht und Farbe

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Thessaloniki und Rapid

Diese Stadt hat ihren Gang. Betriebsam und geschaeftıg, und auf ihre Weise unbekümmert. Schon als ich sie zum ersten Mal durchquerte und, im Bus angeschnauzt wegen des grossen Rucksacks, staendıg aus den Fenstern Ausschau hıelt nach IKEA, der grossen Busstatıon auf der anderen Seite der Stadt, da schien mir dıe Fahrt nicht enden zu wollen. Unterwegs begegneten mır all dıe berühmten orthodoxen Kirchen und Klöster, wie Inseln umflossen vom Stadtgetriebe, umzingelt von heutigen Plattenbauten. Spaeter mıt Hans sehe ich das genauer; sogar das Kloster selbst ist so sehr erneuert, die Ziegelwaende so glattgeputzt, dıe Fresken in der Kirche so bunt und klar, dass beinahe nur das Wasser traditionell ist, das wundertaetig im Brunnen fliesst und mit dem Hans sich scheu gar nicht zu waschen wagt.
Schneller als ich waren die Rapıd-Anhaenger beim weissen Turm, und beim Fussballspiel am Abend, das in keinem der von Hans empfangenen griechischen Fernsehprogrammen uebertragen wurde, sodass mir nur die abgehackten Bilder vom Internet-Livestream blieben, schoss Rapid das erste Tor.
Aber als ich, am naechsten Tag in aller Früh aufgestanden, dann nervös im Stadtbus sass, da schien der Gang der Stadt beinahe stehengeblieben, und alles wollte sich dazwischenschieben zwischen mich und die Reise durch Trakien, die um Punkt 10 Uhr beginnen sollte in der Gasse hinterm Bahnhof. Dass ich buchstaeblich in der letzten Sekunde dort ankam, hatte ich der Mithilfe des Busfahrers zu verdanken, der mich schon vor der Station herausliess, sodass ich im Laufschritt auf Sandalen mıt Rucksack den Passantenstrom durchpflügen und die letzte Gasse hinaufeilen konnte.
Wahrscheinlich war es dieser traege Gang, dieses breite langsame Fliessen, was allmaehlich und unmerklich die grosse Vergangenheit Salonikis eingeschlossen hat, sodass nun die letzten Monumente wie Inseln daraus hervorragen. Als Paulus hier die Gemeinde gegründet hat, da musste er die Glaeubıgen auch herausrufen (ekklesia) aus dem traegen Gang der Zeit, damit sie hörend würden

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Europas Aussengrenze

Ich habe auf meiner Reise keine besondere Bautaetigkeit bemerken können ım Grenzbereich, und auch keine aussergewoehnliche Militaerpraesenz.
Ich durchquerte mit dem Bus den griechischen Teil Trakiens, fuhr über Serres, Kavala, Xanthi und Alexandroupolis zwischen dem Küstentiefland und der Bergregion, hinter der schon Bulgarien liegt, meist durch sanftwelliges Gelaende. Industrieanlagen, Fabrikshallen, Sonnenblumenfelder, oft vertrocknet, wohl für die Biospritproduktion, wie an den BOSFOREL-, ALIOLI- und SATILIK-Schildern erkennbar. Alexandroupolis liegt als freundliches Badestaedtchen mit unzaehligen Kafenions am Meer. Aber als neue Passagiere hier zusteigen, merke ich, dass es alles Türken sind. In diesem östlichen Trakiens wohnen Griechen, Türken und Bulgaren weiterhin zusammen wie vor Jahrhunderten, hier hat der grossflaechige Bevoelkerungsaustausch zwischen Türkei und Griechenland 1922 nicht eingegriffen.
Vielleicht haette ich etwas sehen können von Taetigkeiten zur Grenzbefestigung, wenn ich über die Strasse von Alexandroupolis direkt nach Edirne haette fahren können. Aber die sei gesperrt, sagt man mir. Über 113 km verlaeuft sie knapp hinter der Grenze, auf der europaeischen Seite. Medienberichte wundern sich über das Fehlen jeglicher Sicherungsmassnahmen dort. 16 km Stacheldrahtzaun? Laecherlich, bei 206 km Grenzverlauf. Zwischen den beiden ehemaligen Erzfeinden also bisher keine Grenzbarrieren.
Von illegalen Grenzübertritten haben die meisten meiner Gespraechspartner gehört in Griechenland und in der Türkei. Vom geplanten Stacheldrahtzaun einige. Von Verminung gar keiner.

Die neuralgische Stelle sei laut eines Berichts der Frankfurter Rundschau die Zone hintere Edirne. Hier macht der Grenzfluss Evros einen Knick, und die Grenze verlaeuft über Land. Ich fuhr mit dem Dolmuş aus Edirne hin: Nach den beschaulichen traditionellen Stadtrandsiedlungen kommen Felder, und dann, hinter Baeumen, der Grenzübergang. Jeder kann da hinkommen. Den Zaun hab ich natürlich nicht untersucht. Aber ich komme zurück mit einer ganz anderen Frage: Was ist denn mit der türkisch-bulgarischen Grenze? Die hat eine aehnliche Laenge, augenscheinlich Hügelland, und ist genausowenig gesichert. Sollte die eine Grenze besser gesichert werden, dann werden sich die Schlepper eben andere Routen suchen, nicht weit weg. Statt Lampedusa wird jetzt Malta angelaufen, liest man.
Man kann um die Grenzfrage nicht herumkommen - über Grenzen schon.

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Medienberıchte:

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/730305/Griechenland-baut-Zaun-an-Grenze-zur-Tuerkei
http://www.fr-online.de/politik/frontex-einsatz-in-griechenland--waechter-an-europas-grenze,1472596,4834854.html
http://www.focus.de/panorama/vermischtes/grenze-zwischen-griechenland-und-tuerkei-schleuser-schiessen-auf-frontex-beamte_aid_719787.html
http://www.google.com.tr/search?q=grenze+t%C3%BCrkei+griechenland&hl=tr&client=firefox-a&hs=1au&rls=org.mozilla:tr:official&prmd=imvns&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ei=9q44UK2KF8SFhQeCoYCgAg&ved=0CFMQsAQ&biw=1366&bih=638
http://www.flucht-ist-kein-verbrechen.de/de/laenderberichte/

Der Philosoph ohne Bücher. Thessaloniki

Hans rettet mich von der staubigen Landstrasse, nachdem der Busfahrer, zuletzt war ich sein einziger Fahrgast. mıt beaengstigendem Tempo gebraust war, sodass ich schon gar nicht mehr erkennen konnte, wo ich war und wo ich aussteigen musste. Mit seinem klapprigen Transporter, der vor zehn Jahren 200 Euro gekostet hat. rattern wir über staubige Wege zu seinem Haus. Die Türen öffnen sıch automatisch, und wir treten ein ins Wunderreich der Erfindungsgabe. Hans ist Elementar-Ingenieur und baut Erdbatterien, Wassermaschinen, die aus der Luft Trinkwasser gewinnen, Sonnenkollektoren, Erdhaeuser um 2000 Euro und ein Windrad, bei dessen Montage ich ein wenig helfen konnte. Er wohnt mit Anna, der Griechin, die seinen Eifer nur in manchen Dingen teilt, und einigen Ziegen, Hühnern, Hunden und Katzen in einem Garten, dem dieser heisse Sommer schon sehr zugesetzt hat.
Hans hat deutsche und Roma-Wurzeln, ist unterwegs aufgewachsen und zeıgt mir stolz Bilder von seinem Auto-Tross, in dem die Ponys und die Gypsy-Queen mit ihm von Ort zu Ort fuhren. Hans ist Akrobat und Bastler, Lebenskünstler und Prediger, Schriftsteller und Arbeitsloser. Und, ob er das zugeben wıll oder nicht: rechthaberisch und selbstbezogen wie ein Deutscher. Anna ist Kommunistin. Für beide gehören dıe Schwarzen zu den wichtigsten Feindbildern, das sind die orthodoxen Priester, und mit ihnen jede Religion, so wie die Regierung, die Banken, die Reichen und Ignoranten, die kontinuierlich die Welt zerstören. Sie fahren mich ans Meer an einen Geheimstrand, hören sich meine Rockmesse an, geben mir Kost und Quartier, zeigen mir Saloniki, spielen mir griechische Volksmusik vor von den Pontus-Griechen (Annas Familie) und von Insel-Griechen, und ich ihnen Harry Stoika auf seiner Indienreise (ich verspreche ihnen das Video zu schicken) und diskutieren mit mir Tag und Nacht. Aber ihr Gegensatz zu Religion und Glaube ist unumstösslich.

Der Religionsersatz von Hans (für Anna könnte ich das nicht sagen) ist sein Glaube an die Rache der Natur - genauer: an den Untergang der Zivilisation bei den naechsten Sonnenausbrüchen kommende Weihnachten. Darin spiegelt sich seine Zivilisationskritik und Verachtung. Seine Dogmatik beginnt mit Ich-Saetzen: Ich habe gemacht, ich weıss es, ich bestitze..., und seine Gottesdienste sind vielleicht die Streifzüge durch die Natur, wo er mir ehrfurchtsvoll zeigt, wie das Meer aus dem Sand mıt Salz harten Stein macht, aus dem man Haeuser bauen könnte. Das Haus, in dem wir wohnen, hat aber Anna gebaut, aus Zıegeln, und dahinter hat ihr Sohn sein Haus aus Holz gebaut. Vıelleicht fehlen Hans die Jünger, um ein Apostel zu sein.

Seine religiöse Konstruktion dient seiner Rechtfertigung. Schuld an der Misere der Welt und an dem Streit, den wir dann doch noch haben, als er die Pfaffen generell beschuldigt, sind die anderen, Unwissenden, der Busfahrer, dieser Faschist, und sogar Anna, weil sie Retsina trinkt und auch mir angeboten hat! mmmm! Zwar nennt er sich einen immerzu Lernenden, aber er sieht sich jedenfalls auf der richtigen Seite - und wenn dann, zu Weıhnachten, die Zivilisation nicht untergegangen sein wird und die naechste Katastrophe wieder nur die Armen der Welt treffen wird, dann wird er seinen Gegensatz und Widerspruch zu Grıechenland, Deutschland, zur westlıchen Zıvılisation und zur heutigen Welt wieder anders formulıeren und darstellen müssen.
Aber es wird derselbe Gegensatz sein.

Da ist meine Religion weltverbundener.

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