Dienstag, 14. August 2012

Immigranten

Vom Satelliten aus hatte ich bereits einige Glashaeuser rund um Ragusa gesehen. Es handelte sich jedoch, soviel konnte ich vom Zug aus sehen, kaum um Grossbetriebe, und mit Massenbeschaeftigung von afrikanischen Einwanderern war hier nicht zu rechnen.
Bei der Abreise von Ragusa sah ich im unbesetzten Bahnhofsgebaeude zunaechst eine Rumaenin bei der Waesche im Wartesaal, und dann, heraustretend, noch erstaunlicher einen Mann, in grosser Ernsthaftigkeit seine Waesche an der Bahnsteigkante mittels Wasserhahn und Waschmittel (das mir fehlte!) waschen und durch heftiges Klatschen auszuwringen. Spaeter schlichtete er die Kleidungsstuecke zum Trocknen einzeln ueber das blaue Schild mit dem Namen der Stadt. Waehrend ich verwundert der spindelduerren Rumaenin zusah, die den Kuebel mit Seifenwasser die Gleise entlangschleppte und irgendwo ausleerte, als waere das alles ihre Waschkueche und wuerde sie das jede Woche so machen, sprach mich ein junger Afrikaner an, der sich als Samir aus Ghana vorstellte, spaeter aber, als er mir seine Dokumente zeigte, auf Somalia und dann auf Aethiopia als Herkunftsland korrigierte - denn diese alle Sprachen beherrschte er. Im Pass stand Somalia, ausgestellt in der Schweiz, mit einem raetselhaften Bild. Holland und Daenemark haette er auch bereist, auf Italien schimpfte er, weil es keine richtige Arbeit gebe.
Spaet erwaehnt er seine Frau in Palermo, rief sie dann aber an und gab mir sein Handy, damit ich mit ihr spraeche.
Ich erkannte, dass er unter Drogen stand, er gab es zu.
Er war sehr ueberrascht ueber meine direkte Ansprache, suchte nicht nach Ausreden, und schien ueberhaupt wenig Gespraechspartner zu haben. Es gebe keine Afrikaner hier, sagte er, jedenfalls haette er keine Kontakte.
Ich forderte ihn auf, richtige Arbeit zu suchen. Er gab sich hoffnungslos, haette schon alles versucht, seit vier Jahren.
Er nannte sich einen Muslim und wusste vom Ramadan. Er haette auch nichts gegessen - als ich ihn aufs Rauchen ansprach, gab er zu, den Ramadan nicht zu halten.
Im Ganzen wirkte er sehr interessiert an Gespraech und Kontakt, hatte sich aber sehr vernachlaessigt und wirkte desillusioniert und hoffnungslos. Als mein Zug kam, bettelte er mich um Geld fuer Drogen an, was ich ihm verweigerte. Trotzdem verabschiedete er sich freundlich.

Der entgrenzte Mensch

Die Eigenschaftslosigkeit ist bereits recht nachvollziehbar als mystischer Terminus dargestellt worden, etwa mit der Bedeutung, der eigene Charakter, das Ich wuerde nicht als Besitz verstanden werden, als feststehende Entitaet, sondern nur rein als Vollzug in fortwaehrender Veraenderung. Die mystische Bedeutung gipfelte in der Absage an die Selbstverfuegung und in der Gottesverfuegung. Es laesst sich das nicht in zwei Handlungsweisen aufloesen, sondern der Terminus ist ein GRENZBEGRIFF, der eine Tendenz oder eine Wuenschbarkeit formuliert, sozusagen eine Membran, die durchlaessig ist fuer eine andere Wirklichkeit/Bezueglichkeit.

Ulrich, der Mensch, der sich als eigenschaftslos bezeichnet, demonstriert das mit sichtlicher Begeisterung in den sogenannten Heiligen Gespraechen mit seiner "Zwillingsschwester", wo Zitate von Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg, Avicenna oder Pseudodionysos deklamiert werden. Sich allen Besitzstandes zu entauessern ist die Leidenschaft: "Wirf alles ins Feuer, bis zu den Schuhen", und das Ich dazu. Wenn es Ulrich auch bis dahin relativ weit gebracht hat in der Tatenlosigkeit, indem er die Karriere an den Nagen gehaengt hatte und seine weitere Beschaeftigung nur wie nebenher anlegt, so bedarf besonders Agathe baldigst entschiedener Taten.

Es fehlt aber, um den Terminus existenziell zu verankern, irgendeine Art von Gottesbezogenheit. Zwar spricht nichts dagegen, seine negative Theologie ernst zu nehmen, aber die kann, wenn sie mehr sein will als ein leerer Gestus, nur das zweite sein nach einer affirmativen Theologie, und diese fehlt bei Ulrich vollstaendig. Was er immer wieder "Gott" nennt, ist eine Maske, und gerade nicht im negativen Sinn.

Ulrichs Selbstentwicklungsprogramm der "Enthaltung von der Welt" ist nichts anderes als eine Selbstentgrenzung aus der Sicht des 21. Jahrhunderts. Diese Art von subjektiver Freiheit kann als Endpunkt (point of no return) der ganzen Aufklaerungsgeschichte gesehen werden. Es geht um moeglichst weitreichende Beziehungslosigkeit, beginnend bei Autoritaeten und Althergebrachtem, um Losloesung von Verpflichtungen (ohne dass auf den Genuss von menschlichen Kontakten verzichtet werden muesste: Bonadea), und schliesslich um die Selbsterfindung. Ulrich vergleicht sich mit der Figur auf den Seiten eines Buches, und will das auch seiner Kusine empfehlen: "Wir wollen uns lieben wie die Figuren auf den Seiten eines Buches!" Waehrend diese Verhandlung ihm nichts einbringt, und Bonadea sich zwar auf ihn, aber nicht auf seine Konstruktionen einlaesst, scheint es mit seiner Schwester Agathe vielversprechend anzugehen. Ulrichs Testamentfaelschung ist ein erster Schritt zu ihrer beider Selbstkonstruktion. Ihr Zusammenleben mitsamt den "Heiligen Gespraechen" ist als weiterer Schritt aufzufassen, auch wenn Agathe dessen Ambivalenz nur schwer ertraegt.

Ein weiteres Element der Selbsterfindung, und vielleicht das augenscheinlichste, ist Ulrichs "Jenachdem"-Moral. Ohne Grundsaetze und Leitlinien ausser der ruecksichtslosen Selbstentfaltung konstruiert sich der eigenschaftslose Mensch immer neu: "Er kann zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen ... denn der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln"(MoE 257), verbot die Bindung an etwas Feststehendes. Darin liegt der eigentliche Grund fuer Ulrichs Schwaermen vom Ingenieursdenken. In der erzaehlten Zeit, dem Ende der k. und k.-Monarchie, galt das Ingenieurswesen als Motor der Moderne. In der Abfassungszeit erlebte Europa die Neukonstruktion von Mensch und Gesellschaft im Faschismus und, laenger waehrend, in der kommunistischen Staatsideologie. Heute jedoch, nach jahrzehntelanger buergerlich-sozialistischer Fortschrittsideologie der Entfesselung des Subjekts, scheint das Aufklaerungsprogramm an sein Ende gekommen zu sein. Denn erst im massendemokratischen Wohlfahrtsstaat ist es moeglich geworden, ohne Bindung und Verpflichtung sich fortgesetzt selber neu zu erfinden und zu modellieren.
Aber was diese Existenzform ermoeglicht, verpflichtet ja vielleicht auch dazu, ohne das das beabsichtigt war. Denn die Freisetzungen in der Arbeitswelt, im familiaeren Zusammenleben, in der eigenen Biografie, im Weltbild und in der Religion erfordern inzwischen eine bestimmte Art von Tuechtigkeit. In dieser Lebensweise folgt die verkabelte Facebook-Jugend ihren Eltern und Grosseltern, die die Jahrzehnte ihrer Pension mit Fernsehserien gestalten oder die Zwischenraeume ihrer Stressberufe mit Computerspielen. Die Simulation der Wirklichkeit ist wirklich von langer Hand vorbereitet. Und wenn nichts mehr gilt, dann verschafft man sich Geltung.
Also war der Mann ohne Eigenschaften doch ein Prophet.

Die doppelte Stadt. Ragusa

Vergesst nichts von dem, was bisher zu sehen war von den Staedten, Achsen und Ausblicken. Denn jetzt geht es noch einen Schritt weiter.

Als 1693 ein verheerendes Erdbeben Ragusa voellig zerstoert hatte, konnte man sich nicht entscheiden, ob die Stadt auf dem alten Truemmerfeld oder am benachbarten Huegel wieder aufgebaut werden sollte. Und so gibt es zwei Barockstaedte dieses Namens, durch einen tiefen Graben getrennt und verbunden. Aber es sei gesagt, dass die Verdoppelung Ragusas nur eine Seite der Raffinesse dieser Stadt ist. Denn in den Simsen und Voluten der Palazzi lauern noch unzaehlige Beobachter, deren Blicke Ragusa noch einmal vervielfaeltigen. Und so weit auseinanderklaffend die Blickwinkel auch sein moegen, die zum Berg oder gegen Stockwerke, gegen Haeuserfronten oder ins Tal hinunter, in Zwischenraeume hinein oder ueber die Daecher hinweggehen - in einem werden sie sich bestimmt alle einig sein: An den Augustnachmittagen wird alles, was nur irgendeinen Funken Verstand hat, in schattigen Kammern ruhen. Der Rest sind Reisende

IMG_4456

IMG_4447

IMG_4428

IMG_4411

IMG_4398

IMG_4394

IMG_4390

IMG_4388
logo

grenzgänger

Aktuelle Beiträge

Text zu Text. Ägypten...
Der Morgen in Luxor am Hotelbalkon/ ein Haus aus der...
grenzwärtig - 24. Aug, 11:57
Tell Amarna
Die Königsresidenz des Ungeliebten. Das Beste an...
grenzwärtig - 26. Jan, 11:34
Ägypten ergangen III
In Hurghada bin ich auch geschnorchelt. Ich habe nur...
grenzwärtig - 30. Dez, 17:37
Ägypten ergangen II
Das Katharinenkloster liegt inmitten steiniger dunkler...
grenzwärtig - 24. Dez, 17:46
Ägypten ergangen I
Die Mose-Reise begann eigentlich am Busbahnhof von...
grenzwärtig - 22. Dez, 23:41

Meine Kommentare

Neuen Weblog?
Ich wollte dringend einen neuen Weblog anlegen für...
info - 24. Jun, 13:56
Achtung Geschichte
Ich moechte den werten Leser>die Leserin auf einen...
grenzwaertig1 - 31. Jul, 23:42
Hallo Schlagloch!
Der naechste Orientabend waere sicher eine gute Gelegenheit...
grenzwaertig1 - 31. Jul, 16:28
Der entgrenzte Mensch
KOMMENTAR ZUR JÜNGSTEN BIOETHIKKOMMISSIONS-ENTSCH EIDUNG...
grenzwaertig - 30. Sep, 18:59
Sehr herbstlich
und philosophisch bist du geworden! Sinnierend wie...
Gedankenbilderbuche - 30. Sep, 18:49

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Suche

 

Status

Online seit 4338 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 24. Aug, 11:57

Credits

Besucher


beobachtungen
exodus und einkehr
geschichte
Nach der Grenze tasten
reiseroute
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren