Der entgrenzte Mensch

Die Eigenschaftslosigkeit ist bereits recht nachvollziehbar als mystischer Terminus dargestellt worden, etwa mit der Bedeutung, der eigene Charakter, das Ich wuerde nicht als Besitz verstanden werden, als feststehende Entitaet, sondern nur rein als Vollzug in fortwaehrender Veraenderung. Die mystische Bedeutung gipfelte in der Absage an die Selbstverfuegung und in der Gottesverfuegung. Es laesst sich das nicht in zwei Handlungsweisen aufloesen, sondern der Terminus ist ein GRENZBEGRIFF, der eine Tendenz oder eine Wuenschbarkeit formuliert, sozusagen eine Membran, die durchlaessig ist fuer eine andere Wirklichkeit/Bezueglichkeit.

Ulrich, der Mensch, der sich als eigenschaftslos bezeichnet, demonstriert das mit sichtlicher Begeisterung in den sogenannten Heiligen Gespraechen mit seiner "Zwillingsschwester", wo Zitate von Meister Eckhart, Mechthild von Magdeburg, Avicenna oder Pseudodionysos deklamiert werden. Sich allen Besitzstandes zu entauessern ist die Leidenschaft: "Wirf alles ins Feuer, bis zu den Schuhen", und das Ich dazu. Wenn es Ulrich auch bis dahin relativ weit gebracht hat in der Tatenlosigkeit, indem er die Karriere an den Nagen gehaengt hatte und seine weitere Beschaeftigung nur wie nebenher anlegt, so bedarf besonders Agathe baldigst entschiedener Taten.

Es fehlt aber, um den Terminus existenziell zu verankern, irgendeine Art von Gottesbezogenheit. Zwar spricht nichts dagegen, seine negative Theologie ernst zu nehmen, aber die kann, wenn sie mehr sein will als ein leerer Gestus, nur das zweite sein nach einer affirmativen Theologie, und diese fehlt bei Ulrich vollstaendig. Was er immer wieder "Gott" nennt, ist eine Maske, und gerade nicht im negativen Sinn.

Ulrichs Selbstentwicklungsprogramm der "Enthaltung von der Welt" ist nichts anderes als eine Selbstentgrenzung aus der Sicht des 21. Jahrhunderts. Diese Art von subjektiver Freiheit kann als Endpunkt (point of no return) der ganzen Aufklaerungsgeschichte gesehen werden. Es geht um moeglichst weitreichende Beziehungslosigkeit, beginnend bei Autoritaeten und Althergebrachtem, um Losloesung von Verpflichtungen (ohne dass auf den Genuss von menschlichen Kontakten verzichtet werden muesste: Bonadea), und schliesslich um die Selbsterfindung. Ulrich vergleicht sich mit der Figur auf den Seiten eines Buches, und will das auch seiner Kusine empfehlen: "Wir wollen uns lieben wie die Figuren auf den Seiten eines Buches!" Waehrend diese Verhandlung ihm nichts einbringt, und Bonadea sich zwar auf ihn, aber nicht auf seine Konstruktionen einlaesst, scheint es mit seiner Schwester Agathe vielversprechend anzugehen. Ulrichs Testamentfaelschung ist ein erster Schritt zu ihrer beider Selbstkonstruktion. Ihr Zusammenleben mitsamt den "Heiligen Gespraechen" ist als weiterer Schritt aufzufassen, auch wenn Agathe dessen Ambivalenz nur schwer ertraegt.

Ein weiteres Element der Selbsterfindung, und vielleicht das augenscheinlichste, ist Ulrichs "Jenachdem"-Moral. Ohne Grundsaetze und Leitlinien ausser der ruecksichtslosen Selbstentfaltung konstruiert sich der eigenschaftslose Mensch immer neu: "Er kann zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen ... denn der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln"(MoE 257), verbot die Bindung an etwas Feststehendes. Darin liegt der eigentliche Grund fuer Ulrichs Schwaermen vom Ingenieursdenken. In der erzaehlten Zeit, dem Ende der k. und k.-Monarchie, galt das Ingenieurswesen als Motor der Moderne. In der Abfassungszeit erlebte Europa die Neukonstruktion von Mensch und Gesellschaft im Faschismus und, laenger waehrend, in der kommunistischen Staatsideologie. Heute jedoch, nach jahrzehntelanger buergerlich-sozialistischer Fortschrittsideologie der Entfesselung des Subjekts, scheint das Aufklaerungsprogramm an sein Ende gekommen zu sein. Denn erst im massendemokratischen Wohlfahrtsstaat ist es moeglich geworden, ohne Bindung und Verpflichtung sich fortgesetzt selber neu zu erfinden und zu modellieren.
Aber was diese Existenzform ermoeglicht, verpflichtet ja vielleicht auch dazu, ohne das das beabsichtigt war. Denn die Freisetzungen in der Arbeitswelt, im familiaeren Zusammenleben, in der eigenen Biografie, im Weltbild und in der Religion erfordern inzwischen eine bestimmte Art von Tuechtigkeit. In dieser Lebensweise folgt die verkabelte Facebook-Jugend ihren Eltern und Grosseltern, die die Jahrzehnte ihrer Pension mit Fernsehserien gestalten oder die Zwischenraeume ihrer Stressberufe mit Computerspielen. Die Simulation der Wirklichkeit ist wirklich von langer Hand vorbereitet. Und wenn nichts mehr gilt, dann verschafft man sich Geltung.
Also war der Mann ohne Eigenschaften doch ein Prophet.
SCHLAGLOCH - 16. Aug, 22:28

Hallo Grenzgänger! Versuchst du nicht selbst

durch deine Verkündigung und verschiedene Veranstaltungen Grenzen zu überschreiten. Du hast den Vorteil mit einem Fuß in der Bibel (Glauben) fest verankert zu sein. Nicht alle haben diese Voraussetzungen, Ausgangsbedingungen und überschreiten Grenzen. Darüber, wie die jeweiligen Versuche ausgehen, stelle ich keine Prognose.

Nicht alle haben das Gottvertrauen von Sara, wobei die Musik der Kirchenoper die Zuhörer auf die Folter gespannt hat. Vor der letzten Aufführung ist vis a vis die Stiftsschmiede abgebrannt.

Gruss schlagloch.

grenzwärtig - 16. Aug, 22:56

Ja natuerlich

ueberschreite und ueberwinde ich staendig Grenzen, das ist ja das Thema der Religion. Aber ENTGRENZUNG heisst ja, dass Grenzen nicht anerkannt, und deshalb eben nicht ueberwunden werden.
Hast du die Oper gehen? Das freut mich!
Das Gottvetrtrauen von Sara ist schwer erkaempft, davon handelt ja gerade die Oper. Weder Glaube noch Schriftbezug noch Vertrauen fallen vom Himmel, sondern muessen vom Menschen angenommen und bejaht werden. Und das braucht dessen ganze mutige Freiheit. Zeigt das nicht Sara vor?
grenzwärtig - 25. Aug, 22:35

Entgrenzung. Genauer

Rainer Funk (siehe Bücherliste) definiert den Begriff ENTGRENZUNG so:
Wer entgrenzen will, stösst sich an einer Grenze, Begrenztheit, Bedingtheit, Verbindlichkeit, einem Angewiesensein oder einer Abhaengigkeit und will diese aus der Welt schaffen. Für den emphatischen Entgrenzungsbegriff stellt jede Art Grenze eine Einschraenkung von Freiheit, Autonomie, Kreativitaet und Entwicklungsmöglichkeit dar. Entgrenzung zielt darum auf die Beseitigung von Grenzen und blaest zum Angriff auf die Grenzzieher und Grenzwaechter sowie auf die Symbolisierungen und Personıfizierungen von Wertorientierungen und Moralen, die auf die Einhaltung und Respektierung von Grenzen pochen. Mit Recht kann man daher von einem Entgrenzungsdenken und einem Entgrenzungsglauben sprechen. (37)
grenzwärtig - 30. Sep, 18:59

Der entgrenzte Mensch

KOMMENTAR ZUR JÜNGSTEN BIOETHIKKOMMISSIONS-ENTSCHEIDUNG in der FURCHE.
Die Mehrheit der Bioethikkommission hat dafür plädiert, so gut wie alle strittigen Fortpflanzungstechniken zuzulassen. Umsetzungsdetails überlässt man dabei der Politik. Ein Votum, das in jeglicher Hinsicht betroffen macht.

Von Doris Helmberger

Es ist eine brennende Sehnsucht, die ungewollt kinderlose Paare treibt – und für deren Erfüllung sie beinah alles auf sich nehmen: Sie zahlen Unsummen an Kinderwunschzentren und riskieren durch hormonelle Stimulation ihre Gesundheit; sie sehen sich bei Mehrlingsschwangerschaften mit der Tötung ihrer eigenen Kinder („Reduktion“) konfrontiert; sie benutzen den Samen eines Fremden zur Befruchtung im Körper der Frau oder fahren auf der Suche nach Eizellen junger, anonymer Spenderinnen ins Ausland.
Viele Betroffene würden freilich noch weiter gehen: Sie würden die Eizellspende gern hierzulande in Anspruch nehmen; sie würden auch als alleinstehende Frauen oder lesbische Paare den Weg ins IVF-Labor beschreiten; und sie würden bei erfolglosen Befruchtungsversuchen oder eigener, genetischer Belastung die Embryonen lieber vorab selektieren (Präimplantationsdiagnostik – PID), statt eine „Schwangerschaft auf Probe“ eingehen und schlimmstenfalls einen (bis zur Geburt gesetzlich erlaubten) Spätabbruch durchleben zu müssen. All das würden Menschen in ihrer Sehnsucht nach einem eigenen, gesunden Kind sofort tun. Doch sollen sie es auch dürfen?

„Betroffenheitskompetenz“ als Argument

Ja, meinen 15 jener 25 Expertinnen und Experten, die in der österreichischen Bio-ethikkommission im Bundeskanzleramt vertreten sind. Sogar für die Möglichkeit der Zeugung von „Rettungsgeschwistern“, die einem Bruder oder einer Schwester durch Gewebstransfer das Leben retten sollen, spricht man sich aus. Nur die Leihmutterschaft, die für die Realisierung des Kinderwunsches von homosexuellen Paaren nötig wäre, will man in einer Novelle des Fortpflanzungsmedizingesetzes verbieten.
Die zehn Frauen und fünf Männer (darunter die Gremiums-Vorsitzende Christiane Druml und der Genetiker Markus Hengstschläger) argumentieren in ihrem Papier vor allem mit der „Betroffenheitskompetenz“ von Männern und Frauen mit Kinderwunsch – und mit der Empirie: Der Familienbegriff müsse eben „angesichts der medizinischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten grundlegend neu betrachtet und gegebenenfalls gesetzlich neu verankert werden“, heißt es. Althergebrachte Formen – vor allem das klassische Muster Vater-Mutter-Kind – stehen zwischen den Zeilen permanent unter Ideologieverdacht.
Doch ist das, was in unserer pluralistischen Gesellschaft an allen Ecken und Enden geschieht, tatsächlich auch automatisch gut und fördernswert? Legitimiert der Umstand, dass immer mehr Kinder in komplizierten Patchworkfamilien oder vaterlos aufwachsen, automatisch auch die bewusste Aufspaltung von Elternschaft in genetische, biologische und soziale Eltern, wie sie etwa bei einer Zulassung der Eizell- oder Samenspende geschehen würde? Wie steht es um das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Herkunft, wie es bei Adoptionen immer bedeutsamer wird?

Dammbruch Richtung Screening

Auf all diese Fragen können die 15 Kommissionsmitglieder keine zufriedenstellenden Antworten liefern. Ebenso wenig auf die Frage, wie nach einer Zulassung der PID in Einzelfällen ein Dammbruch hin zu einem Screening verhindert werden soll – und was das für das Selbstverständnis von Menschen mit Behinderungen bedeutet.
Das erzeugt Unbehagen – nicht nur bei den Konservativen und Kirchen, die vor einer Verzweckung und Instrumentalisierung des menschlichen Lebens warnen, sondern auch bei liberal gesinnten Kommissionsmitgliedern wie dem evangelischen Theologen Ulrich Körtner, der das Papier – wie auch drei weitere Kollegen, darunter Klaus Voget vom Zivilinvalidenverband – nicht unterzeichnet hat: Es sei „unausgereift“, wesentliche Bereiche seien nicht umfassend diskutiert worden, kritisiert er.
Für eine parlamentarische Enquete gäbe es also durchaus Gesprächsbedarf. Wenn man nicht wüsste, wie das Hohe Haus gemeinhin zu diskutieren pflegt – man würde sie sich sehnlichst wünschen.
SCHLAGLOCH - 18. Aug, 19:47

Hallo Grenzgänger! Ja die Kirchenoper

haben wir auch gesehen. Zuallerletzt. Zuerst haben wir die Rauchschwaden über Ossiach gesehen, dann den abgebrannten Dachstuhl und das abgebrannte Obergeschoß der Stiftsschmiede, dann die vielen Leute um den abgesperrten Brandherd, dann die zwei verkohlten Baumstämme im Gastgarten der Stiftsschenke, die sich als Skulptur von Johann Feilacher entpuppten und zuallerletzt die Kirchenoper "Sara und ihre Männer". Zumindest einen Mann haben wir gesehen, den Pharao, weder Abraham noch Gott haben wir gesehen. Ich zähle Gott auch zu ihren Männern, er spielt ja die entscheidende Rolle in ihrem Leben.

Allora, an Grenzen mangelt es nicht in unserem Leben, von du darfst, du sollst, das geht nicht und "wohin wird das führen". Das ist wohl die offene Frage, selbst wenn man am Kraterrand vom Ätna steht, muss man wieder zurück.

Gruss schlagloch.

grenzwärtig - 19. Aug, 09:46

Uebrigens:

Mit einem Fuss im Glauben stehen ist sicher zuwenig, wahrscheinlich gibts das gar nicht. Wenn schon, dann mit beiden Fuessen (und mit dem ganzen Leib), und dann nicht stehen, sondern GEHEN!
Liebe Gruesse vom Wanderer...
kaliji - 26. Aug, 05:50

menschliche kontakte

one who does what the friend wants done
will never need a friend.

there's a bankruptcy that's pure gain.
the moon stays bright when it
doesn't avoid the night.

a rose's rarest essence
lives in the thorn.

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grenzwaertig - 30. Sep, 18:59
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und philosophisch bist du geworden! Sinnierend wie...
Gedankenbilderbuche - 30. Sep, 18:49

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